25. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2022

Immer das Gleiche und doch ganz anders

von Joachim Lange

Zur Halbzeit der aktuellen Bayreuther Festspiele direkt vom Grünen Hügel

Bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen gibt es neben dem Spielplan schon immer auch so etwas wie Schattenspiele. Inklusive des ganz großen rabenschwarzen beziehungsweise nazibraunen Schattens, an dem die Festspiele seit ihrer propagandistischen „Nutzung“ durch Wagnerfan Adolf Hitler immer noch zu knabbern haben. In den letzten Jahren haben Regisseure wie Stefan Herheim („Parsifal“) und Barrie Kosky („Meistersinger“) dieses Kapitel auf der Bühne künstlerisch aufgegriffen. Da war es vergleichsweise läppisch, als sich jetzt ein Generalprobenbesucher darüber mokierte, dass Lohengrin den kleinen Herzog-Gottfried den Brabantern als ihren „Führer“ und nicht, wie es heute oft (auch von Katharina Wagner selbst) gemacht wird, als „Schützer“ präsentierte. In der Vorstellung sang Klaus Florian Vogt dann die weniger toxische Variante. Ob man in dem Falle vom Original abweicht oder nicht führte – es blieb begründeter Weise lediglich ein herbeigezaubertes Thema einer Lokalzeitung. Auch die dort kolportierten – immer noch anonymen – MeToo-Vorwürfe, oder das Raunen der ZEIT über ein „Ende der Dynastie Wagner“, bringt Kenner und Freunde der in Bayreuth betriebenen exklusiven Wagnerpflege nicht wirklich aus der Fassung.

Da ging es in den Zeiten des Erbfolgekrieges um die Nachfolge von Wolfgang Wagner (1919-2010) ganz anders zur Sache. Inzwischen hat sich die Wunschmaid des Wagnerenkels, seine Tochter Katharina, längst etabliert, um mit dem ja tatsächlich vorhandenen Reform- und Renovierungsstau mittelfristig ebenso professionell umzugehen, wie kurzfristig mit den Querschlägern, die das Virus einer langfristigen Festpielplanung immer wieder verpasst.

Nach den 2020 ganz ausgefallenen und 2021 mit halbierten Besucherzahlen durchgeführten Festspielen, gab es in diesem Jahr zu den vier Premieren des um zwei Jahre verschobenen Rings, für den zur allseitigen Verblüffung der junge Österreicher Valentin Schwarz engagiert worden war, auch noch einen neuen „Tristan“. So viel Neues auf einmal gibt es sonst nie. Falls es doch Ausfälle bei den chorstärkeren Opern gäbe, könnte man ersatzweise mit „Tristan“ antreten. Dessen kurzen Chorauftritt könnte man notfalls zuspielen, so Katharina Wagner. Vor Festspielbeginn traf es dann den Ring-Dirigenten Pieta Inkinen, für den der gerade Tristan einstudierende Cornelius Meister einsprang. Tristan wiederum übernahm Markus Poschner.

Der Auftakt mit „Tristan und Isolde“ ging gut – sogar ohne Buhs für die Inszenierung von Roland Schwab. Catherine Foster und Stephen Gould übertrafen sich in den Titelpartien selbst und auch Poschner wurde bejubelt.

Im Ring gab es dann einen kleinen Unfall. Wotan-Sänger Thomas Konieczny krachte im zweiten Aufzug der „Walküre“ mit einem Designer-Chair so zusammen, dass Michael Kupfer-Radecky, der als Gunther eh vor Ort war, seine mustergültige Wortverständlichkeit im dritten Aufzug demonstrieren konnte. In der „Götterdämmerung“ dann noch so ein Klassik-Szenen Schmankerl: Als Siegfried fiel nicht nur Stephen Gould aus, sondern auch sein Cover (der grandiose Jung-Siegfried) Andreas Schager. Also wurde der in Italien urlaubende junge Amerikaner Clay Hilley, der als Siegfried in Herheims jüngstem Berliner Ring gefeiert worden war, vom Strand weg auf die Bühne des Festspielhauses geholt. Was er mit professioneller Flexibilität bewältigte. Man kann sich gut vorstellen, dass ambitionierte Wagnerstimmen-Besitzer sich den August vorsichtshalber freihalten und wohl auch dafür sorgen, dass sich ihre Telefonnummern in den entsprechenden Notizbüchern finden …

Der Ring war – gemessen am Buhsturm für die Regie – ein veritabler, lautstarker Knaller. Unisono-Jubel wäre Scheitern. Schwarz hat die Wotan-Geschichte zu einer Familiensage im Serienformat gemacht, und alles, was nach mythischem Rumpelkammerplunder auch nur aussieht, entsorgt. Die Grundidee, in Wotan und Alberich Zwillinge zu sehen, die sich schon als Embryos im Mutterleib attackieren, sich in ganz unterschiedlich luxuriösen Wohnungen einer imaginären Unterkunft für eine zerstrittene Großfamilie einrichten und bei alldem, was sie selbst so verzapfen, vor allem aber den Nachwuchs wie einen Wechsel auf die Zukunft fest im Blick haben, hat Charme. Und funktioniert immer dann, wenn er auch seinem Ansatz tatsächlich folgt. Die Feindschaft von Wotan und Alberich setzt sich in der ihrer Nachkommen Hagen und Siegfried fort. Erfindet man einen kleinen und dann einen jugendlichen Hagen dazu und stellt ihn (wenn auch nur stumm) auch da, wo er noch gar nicht vorgesehen ist, auf die Bühne, dann ergeben sich plötzlich verblüffende Parallelen der Biographien von Superheld Siegfried und Heldenmörder Hagen. Das ist mit szenischem Witz erzählt.

Allerdings geht Schwarz in den letzten beide Aufzügen der „Götterdämmerung“ die Erfindungspuste aus. Man wüsste schon gerne, was aus der Walhall-Baustelle im Pyramidenlook nun geworden ist, denn das Modell dazu war eines der „neuen“ szenischen Leitmotive. Und man wüsste auch gerne, wie die beiden Alten (Wotan und Alberich) mit dem Scheitern ihrer Lebensplanung in der Folgegeneration fertig werden oder wie sie daran kaputt gehen. Wenn man die Götter so vermenschlicht wie in diesem Ring-Vierteiler in Bayreuth (Schwarz hatte auf die Mode der Netflixserien verwiesen), dann wäre deren kompletter Untergang als Konsequenz allzu nihilistisch. Wagner konnte die Götter-Sippschaft versinken lassen, aber gleich die Menschheit? Zumal die Musik ja ein Fünkchen Hoffnung auf Neuanfang für die Menschen lässt.

Übrigens muss man all den tendenziösen Behauptungen widersprechen, dass das Inszenierungsteam komplett von 2000 Premierenbesuchern in Grund und Boden gebrüllt wurde. Buh-Rufer kommen immer überproportional zur Geltung. Diejenigen, die „nur“ applaudieren oder mit Bravi dagegen halten, haben es deutlich schwerer, gehört zu werden. Wenn dann noch die notorischen Beckmesser ihre Kreide beim Fehlersammeln in den Feuilletons quietschen lassen, geht Differenzieren und Abwägen im Nachgang verloren.

Wo selbst sogenannte Edelfedern zu Vokabeln wie „Hinrichtung“ und „Fehlinvestition“ greifen, andere gar Wagner- und Opernverächter ins Kritikerrennen schicken (wie eine linke Tageszeitung), mag das zu einem beabsichtigten, kurzen Aufmerksamkeitsplus führen. Der Kunst hilft es nicht.

Außerdem hat sich das Publikum bei den Reprisen einhellig auf’s Jubeln verlegt. Und das mit guten Gründen. Nicht nur beim Auftakt zur letzten Aufführungsserie des von Neo Rauchs Pinselstrich dominierten, vor allem statischen „Lohengrin“. Auch der „Fliegende Holländer“ und der „Tannhäuser“ präsentierten sich in einem vorzüglichen szenischen Zustand. Holländer-Regisseur Dmitri Tcherniakov ist gerade mit einem eigenen Ring an der Berliner Lindenoper im Wagnermodus. Sein Bayreuther Psychokrimi über den in der Kindheit traumatisierten jungen Mann, der mit ansehen musste, wie seine Mutter in den Selbstmord getrieben wurde, und der mit Rachegelüsten an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, erlebt man in der Wiederbegegnung noch konsistenter. Was auch dem neuen tragischen Paar, der sensationellen Elisabeth Teige (als Senta) und Thomas J. Mayer (als Holländer) liegt. Im Graben hatte Oksana Lyniv (die Ukrainerin ist die erste Frau am Pult im Bayreuther Graben) die Klangwogen fest im Griff und wurde dafür zu Recht stürmisch gefeiert!

Auch die große Politik wehte mal indirekt, durch die Hintertür, ins Festspielhaus. Beim ersten „Tannhäuser“ in der Regie von Tobias Kratzer hatte noch Valery Gergiev dirigiert. War die Regenbogenfahne über der Harfe am Ende des Sängerwettstreits da noch eine dezente Anspielung auf homophobe Äußerungen des Putinfreundes wäre sein Auftreten heute undenkbar. Im Video, in dem die Venus-Theatertruppe den Grünen Hügel stürmt und einen Polizeieinsatz provoziert, ist jetzt das Porträt der Ukrainerin Lyniv eingefügt, samt Flugblatt mit blaugelbem Bottom.

In Bayreuth begeistert „Tannhäuser“, weil die szenische Überschreibung mit einer Geschichte aus dem Künstlermilieu eine schlüssige Verbindung mit der Vorlage von Wagner und der dort erzählten Geschichte eingeht. Es macht einfach Spaß zu sehen, wie Kratzer von heute aus zugreift, zugleich an eine historische Aufführung erinnert und obendrein die Off-Theatertruppe der Venus in der Pause den Teich – unten im Park vor dem Festspielhaus – mit einer alternative Show bespielt und in der zweiten Pause, das Wagnerzitat „Frei im Wollen, Frei im Thun, Frei im Genießen“ am Balkon hängt. Auf der Bühne lässt vor allem die junge norwegische Wagnerheroine mit Jahrhundertformat, Lise Davidsen, als Elisabeth das Haus erbeben. Am Ende tobte der Saal vor Begeisterung und die paar Buhrufer für Kratzer hatten nicht den Hauch einer Chance! Im Grunde ist es zur Halbzeit auf dem Grünen Hügel so, wie es sein soll …