25. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2022

Globalgeschichte eines Jahrtausends

von Corbinian Senkblei

Der entsprechende Eintrag in Flauberts „Le dictionnaire des idées reçues“ („Das Wörterbuch der übernommenen Ideen“) hätte wahrscheinlich lapidar gelautet: „Mittelalter: immer als finster zu apostrophieren“.

Was fällt einem zu diesem Begriff ein, unter den die europäische Geschichte zwischen Antike und Neuzeit – immerhin die 1000 Jahre von 500 bis 1500 nach Christus – subsumiert wird? Also außer trutzigen Burgen, romanischen Kirchen, gotischen Kathedralen und höchst unchristlichen Kreuzzügen? Na ja, vielleicht noch der vordergründig so gar nicht „mittelalterliche“ Staufer-Kaiser Friedrich II. und die Magna Charta von 1215 … Die Frage hingegen, was sich in jenen zehn Jahrhunderten in beiden Amerikas abgespielt haben mag – zum Beispiel dort, wo die Großreiche der Azteken, Mayas und Inkas in Blüte standen, die die Spanier in ihren kolonialen Eroberungszügen nach 1492 zerstörten –, in Afrika, Asien oder gar Ozeanien, inklusive Australien und Neu Seeland? Wohl eher nicht. Das muss der Schreiber dieser Zeilen zumindest für sich selbst ohne weiteres einräumen.

Doch diese Bildungslücken lassen sich nun schließen, denn der renommierte Mediävist Michael Borgolte, bis zu seiner Emeritierung Professor für mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Verfasser zahlreicher Publikationen, darunter „Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes“ (2006), hat nunmehr eine Globalgeschichte des Mittelalters – vom Untergang des (West-)Römischen Reiches bis zur Entdeckung Amerikas – vorgelegt, „wie sie – auch international – noch nie geschrieben worden ist“. So in einer Annotation.

Die Periodenbestimmung als Mittelalter, die als solche nur für Europa überhaupt Sinn ergibt, sei, so Borgolte, eine „Erfindung“ der Aufklärung um 1800, um eine gegenüber der klassischen Antike geringgeschätzte Epoche, die schließlich mit der Reformation endete, respektive in die Neuzeit überging, gegenüber ihrer Vor- und Nachzeit abzugrenzen. Zum „Perspektivwechsel“ im Vergleich „zur herkömmlichen Geschichtsauffassung“, der seiner heutigen Betrachtungs- und Darstellungsweise zugrunde liegt, hatte Borgolte dabei bereits vor einigen Jahren erklärt: „Der Optimismus, man könne in der Moderne nach einem Niedergang von Jahrhunderten an die Maßstäbe der Klassik anknüpfen, trägt nicht mehr. Alle Epochen werden zu gleichwertigen Untersuchungsobjekten, zwischen denen allenfalls Wandel, aber keine Entwicklung auf eine höhere Stufe erkannt werden kann. Von ,Mittelalter‘ kann man auch nicht mehr sprechen, sondern nur von einem mehr oder weniger willkürlich abgeteilten Zeitsegment von tausend Jahren.“

Ein besonderer Schwerpunkt Borgoltes liegt auf einer Region, die Europa, das nördliche Afrika sowie Kleinasien und Teile Arabiens umfasst – der Autor spricht von „Eufrasien“ – und deren gegenseitige Beziehungen viel enger waren, als bisher bekannt gewesen ist. Mit regem Waren- und Ideenaustausch bis nach China. Und sind die Mongolen teilweise immer noch vor allem berüchtigt wegen dem nach ihnen benannten barbarischen Sturm, der sie aus den Tiefen Asiens bis nach Brandenburg, Niederösterreich und an die Adria führte, so ist bei Borgolte zu erfahren, dass selbst die Entwicklung des westlichen Europas der mongolischen Herrschaft viel mehr zu verdanken hat, als bisher üblicherweise zu lesen war. Borgoltes zwar recht prosaisch materialistisches, gleichwohl faszinierendes Fazit: „Araber, Perser, Südostasiaten und Chinesen, Christen, Muslime, Juden und Buddhisten schlossen miteinander Geschäfte ab, konnten einander auf den Wegen ihres Handels auch ergänzen und vertreten. ‚Das Mittelalter‘ hat vor allem durch sie die Weichen für die Globalisierung gestellt. Am Ausgang der Periode war es wiederum weder das Streben nach größeren Herrschaften noch nach der Verbreitung religiöser Botschaften, Lehren und Kulte, die die Welt der drei Kontinente aufbrachen, sondern es waren die Interessen am Profit mit Handelsgütern aus der Ferne.“

Wenn es um 1000 Jahre Globalgeschichte der Menschheit geht, weist im Übrigen natürlich selbst ein 1100-Seiten-Wälzer zwangsläufig Lücken auf. Eine davon bedauert der Besprecher ganz besonders: über Al-Andalus, das muslimische Herrschaftsgebiet auf der iberischen Halbinsel (Emirat von Cordoba), das über 700 Jahre Bestand hatte, teilt Borgolte so gut wie nichts mit. Dabei waren diese Jahrhunderte eine Zeit kultureller und wissenschaftlicher Blüte sowie – nicht nur gemessen am restlichen Europa – religiöser Toleranz des herrschenden Islams gegenüber Christen und Juden. Erst als im Jahre der Entdeckung Amerikas, 1492, auch die katholische Reconquista in Spanien endgültig gesiegt hatte, brach das „finstere Mittelalter“ dort überhaupt an …

Michael Borgolte: Die Welten des Mittelalters. Globalgeschichte eines Jahrtausends, C. H. Beck Verlag, München 2022, 1102 Seiten, 48,00 Euro.