25. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2022

Tagestrip zu Munch

von Hans-Peter Götz, notiert auf Nesodden

Nähert man sich, von der Halbinsel Nesodden kommend, mit der Fähre über den Oslofjord der Hafeneinfahrt der norwegischen Hauptstadt, dann kann es sein, dass ein dort quer am Kai liegendes Kreuzfahrtmonster mit neun Passagier- und etlichen weiteren Decks den Blick auf die historische Hafenfestung komplett versperrt. Notgedrungen schweift der Blick daher nach links – über nicht sehr hohe, aber sehr moderne und erfreulich abwechslungsreiche Wohnbebauung, die sich bis fast zum Wasser erstreckt. Und dann nach rechts – zunächst zur strahlend weißen öffentlichen Deichmann-Bibliothek, eröffnet 2020, mit ihrer avantgardistischen, luftig-kleinteiligen Fassade und anschließend zur benachbarten Oper. Die wird wegen ihres extravaganten Outfits zu Recht gerühmt. Zur Eröffnung im Jahre 2008, manche werden sich erinnern, war die deutsche Bundeskanzlerin angereist und stahl mit ihrem offenherzigen Dekolleté der Architektur und der Musik (Richard Wagner) kurzzeitig die Show.

Hernach hält das Auge des Betrachters auf der Fähre instinktiv, vielleicht gar konsterniert inne: Direkt neben der Oper erhebt sich aus dem Weichbild der Stadt das neue 13-geschossige Munch-Museum. Unheilschwanger – wie ein melancholischer Golem mit geneigtem Haupt, der sich in eine Gegend verlaufen hat, die überhaupt nicht zu ihm passt, und der gerade nicht mehr weiß wohin. Diese erst 2021 eröffnete Schöpfung des spanischen Architekten Juan Herreros ist mit gut 26.000 Quadratmetern und elf Ausstellungsgalerien das weltweit größte, einem Künstler allein gewidmete Museum. Dem Vernehmen nach soll das Museum bei der Mehrheit der Einheimischen bisher keine Gnade gefunden haben. Das Blatt Dag og Tid meinte, das Haus sei eine „schlechte Idee, die an einem schlechten Tag entstand, ausgeführt von einem schlechten Büro“. Von anderer Seite war die Rede gar von einer „Narbe im Gesicht Oslos“.

Wenn man sich freilich, so gibt unser Freund und Gastgeber auf der Halbinsel Nesodden zu bedenken, vergegenwärtigt, dass ein sehr großer Teil von Munchs künstlerischem Œuvre geprägt ist von seinen lebenslangen depressiven Anwandlungen, zeitweise gedämpft von an Missbrauch gemahnendem Alkoholgenuss, seinen wenig glücklichen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht und seiner schlussendlich vergeblichen Suche nach einer ihm gemäßen Liebe, dann könnte man das verdrießliche Äußere des Museums auch als Vergegenständlichung des Munchschen Wesens deuten. Ein faszinierender Gedanke, der aus – nach öffentlicher Wahrnehmung – „verunglückter“ Architektur einen kongenialen Geniestreich des Spaniers machte. Der Wiener Standard befand jedenfalls: „Ein Kniefall vor dem Kultmaler des ‚Schreis‘, der aufgeht: Architektur und Ausstellungskonzept passen zusammen.“ Darauf könnten die Osloer dann einfach stolz sein. Na, vielleicht überlegen sie es sich ja nochmal – à la long …

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Was den Besucher im Inneren des Museums erwartet ist allerdings allemal hinreißend. Das beginnt bereits auf der ersten Galerieetage, wo derzeit von den deutschen Expressionisten vom Beginn des 20. Jahrhunderts versammelt ist, was Rang und Namen hat: Ob Kirchner, Nolde, Schmidt-Rotluff, Pechstein, Kokoschka, Heckel – allesamt sind sie vertreten, und keineswegs mit „Nebenwerken“. Allein Kirchners „Soldatenbad“ (1915), das gedrängte nackte russische Kriegsgefangene in einem bunkerähnlichen Duschraum zeigt und das Assoziationen zu späteren, ganz andersartigen deutschen Gräueln weckt, und Kokoschkas „Porträt Arnold Schönberg“ (1924) wären einen Besuch wert. Warum dieser illustre Kreis im Munch-Museum präsentiert wird liegt auf der Hand: Im Dunstkreis dieser Künstler war Edvard Munch häufig unterwegs, in ihrer Nähe reüssierte er, ohne sich ihnen andererseits, was Stil und Themen anbetraf, allzu sehr anzunähern. Denn, wie der Museumsbesucher ins Bild gesetzt wird: „Edvard Munch liebte es, sich als einzigartigen Künstler zu betrachten […], der weder zu anderen künstlerischen Strömungen gehörte, noch von solchen Inspiration bezog.“

Mangelndes künstlerisches Selbstbewusstsein war das Problem des Mannes offenbar nicht. Dazu hätten seine Werke auch kaum Veranlassung geboten, wovon man sich in Oslo umfassend überzeugen kann. Dafür hatte Munch jedoch genug andere Abgründe in seinem Leben, wie etwa seine Selbstporträts zeigen, von denen etliche auf der vierten Galerieetage nebeneinander gehängt sind – so von 1881–82 (als 18,19-Jähriger, bereits skeptisch und augenscheinlich wenig erwartungsfroh in die Welt schauend), von 1906 („Selbstporträt mit Weinflasche“) und von 1940 („Selbstporträt am Fenster“). Allein die Aussehensveränderung der Mundpartie des Künstlers – hin zu fast senkrecht nach unten weisenden Mundwinkeln als alter Mann – spricht Bände.

Munchs Scheitern in seinen Beziehungen zu Frauen hat bekanntlich bereits recht früh eingesetzt. Schon als 34-Jähriger malte er sein derart finster eingefärbtes Bild „Der Kuss“, dass man sich instinktiv wünscht, selbst nie in so eine Situation zu geraten. 1905 dann ein Doppelporträt: Munch sowie seine zeitweilige Geliebte Mathilde Larssen, genannt Tulla – üppig langhaarig, rothaarig, mit willensstarker, aber wenig glücklicher Mine. Das Bild ist in der Mitte zerschnitten, wobei die Mähne der Frau auch einen Teil der Munchschen Bildhälfte usurpiert. Wenige Schritte weiter dann dieselbe Frau, gebeugt über den Hals eines Mannes, der verloren in ihren Armen zusammengesunken ist, gemalt schon 1895 und betitelt – „Vampir“.

Als Munch das Doppelporträt schuf, war er bereits mit Eva Mudocci, einer englischen Violinistin, zusammen, die er mit der Lithographie „Die Brosche. Eva Mudocci“ (1903) unsterblich machte. Die Beziehung selbst nahm einen exzessiven und keineswegs harmonischen Verlauf.

Die Lithographie hingegen gehörte viele Jahrzehnte später neben „Schrei“, „Madonna“ und anderen zu jenen Munch-Motiven, von denen sich Andy Warhol inspirieren ließ. Seinen diesbezüglichen Schöpfungen ist ein eigener kleiner, aber feiner Bereich im Munch-Museum gewidmet.

Auf der zehnten Galerieetage schließlich erwartet den Besuch noch ein ganz besonderes Erlebnis. In einem abgedunkelten Raum mit beleuchteten Gemäldekopien und Lithographien Munchs ertönt Musik, von der norwegischen Black-Metal-Band Satyricon und exklusiv für diese gemeinsame Präsentation komponiert. Dazu der Mastermind der Band, Sigurd „Satyr“ Wongraven: „In dem musikalischen Werk ‚Satyricon & Munch‘ findet sich meine musikalische Reflektion auf die Emotionen, die die Werke von Edvard Munch während der Arbeit an der Kunstausstellung in mir ausgelöst haben. Man könnte also sagen, dass die Veröffentlichung des Albums nicht nur eine Folge der Erstellung einer Ausstellung ist, sondern auch eine Reflexion meiner Studien über Edvard Munchs Leben und seine Philosophie der Kunstproduktion – und meines unbändigen Willens, mich selbst als Künstler herauszufordern. Ich schätze seinen Fokus auf Gefühle […], seine Begeisterung zu experimentieren und seine Entschlossenheit, seinen eigenen Weg zu gehen, aufs äußerste.“

Die Sonderausstellung ist noch bis 28. August 2022 zu sehen.

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Um die Mittagsstunde an einem gewöhnlichen Donnerstag Ende Juni, allerdings in den dortigen großen Sommerferien und bei knapp 30 Grad, ist die Gegend um den Osloer Hafen von einer seltenen Quirligkeit. Auf jedem verfügbaren freien Flecken am Ufer – auch direkt unterhalb des lang gestreckten Operngebäudes – tummeln sich Menschen am und im Wasser. Nur ein paar am Kai vertäute Sauna-Flöße warten wahrscheinlich vergeblich auf Gäste. Die Gehwege sind ebenso belebt, wie die Straßenrestaurants und -cafés bestens besucht sind. Vorbei geht es am zwar flachen, aber so riesigen Nationalmuseum, dass, wenn schon nicht alle der knapp fünfeinhalb Millionen Norweger, so doch recht viele davon darin Platz fänden, sowie am dem Friedensnobelpreis und seinen Trägern gewidmeten Nobel Peace Center vorbei zur nicht minder imposanten Victoria Terrasse, einem Gebäudekomplex, in dem zur Zeit der deutschen Okkupation Gestapo und SD ihr Hauptquartier hatten und in dem sich heute das norwegische Außenministerium befindet. So erreicht man in wenigen Fußminuten vom Hafen aus das eher bescheidene, von Hans Ditlev Franciscus von Linstow zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtete klassizistische Schloss. Wer je im Innenhof der Riesenresidenz des Zwergfürstentums Gotha stand, der wird der Apostrophierung „bescheiden“ gewiss zustimmen.

Seit 1905 hat im Schloss die norwegische Königsfamilie ihr Domizil. Bauherr jedoch war der schwedische König. Und das kam so: Auf dem Wiener Kongress 1814/15 war Dänemark als Strafe für dessen Bündnis mit Napoleon seine mehrere hundert Jahre währende Herrschaft über Norwegen genommen worden; die Siegermacht Schweden übernahm das Zepter, verbunden mit der Verpflichtung, dass der Herrscher jeweils einen Teil des Jahres auch in der damals noch Christiana geheißenen Hauptstadt Norwegens residierte … Die Unabhängigkeit wurde dann 90 Jahre später gewährt.

Am Schloss beginnt (oder endet) die Karls Johan gate, die Hauptmagistrale Oslos, die mit zahllosen Geschäften, wichtigen öffentlichen Gebäuden (wie der alten Universität, mit Wandgemälden von Munch) und Grünanlagen (hier blühen gerade die Linden) zum Flanieren einlädt. Zahlreiche üppig bepflanzte bunte Blumenschalen säumen die Fußgängerzone. So gelangt man gemächlich zum allzeit geöffneten Opernhaus, dessen Dach sich für einen Panoramablick über die Stadt erklimmen lässt und dessen Restaurant innen wie auf einer Außenterrasse zum Lunch lädt. Und keineswegs überteuert, wie es das bekannt hohe Preisniveau Norwegens eigentlich befürchten ließe. Danach geht es am Ufer entlang zurück zu den Fähranlegestellen im Hafen und mit einem der Schiffe zurück nach Nesodden.