25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

„Feindbild“ China

von Gundula Henkel

In diesem Februar waren 50 Jahre vergangen, seit der damalige USA-Präsident Richard Nixon nach Peking gereist war, um China zurück auf die Weltbühne zu holen. Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger war bereits ein Jahr zuvor dort. Dem Strategen war selbst zu Zeiten extremer und radikaler Machtkämpfe in China klar, dass das Land nicht ewig in Abschottung und Selbstisolation verharren wird. Chinas riesiges Potenzial wollte er unbedingt für die USA und ihre Verbündeten genutzt wissen. Noch im selben Jahr entsandten Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland Botschafter nach Peking.

Fünfzig Jahre später ist China längst zurück auf der Weltbühne. Bis in die nahe Vergangenheit schien die damalige Strategie aufzugehen: China entwickelte sich vor allem für die westliche Welt zu einem sehr willkommenen Markt. Doch seit China mit eigenen Interessen und Plänen in die Welt geht, trübt sich die Stimmung in den Beziehungen zu China. Von Rivalität ist die Rede, Partnerschaften treten in den Hintergrund.

Noch am Ende des vergangenen Jahrhunderts schien sich alles wunderbar zu fügen: Der sogenannte Westen mit den Hauptmächten USA und (West)-Europa stand im Zentrum des Weltgeschehens; die von diesen Mächten geführten Organisationen und Gremien bestimmten weitestgehend Regeln und Standards in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie fühlten sich auf der Seite der „Sieger“ der Geschichte, denn „ihre“ Grundwerte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten galten nun als weltweit anerkannt. Das westliche Gesellschaftssystem, das diese Werte vertritt, hatte in über hundert Jahren gezeigt, dass es menschenverachtende Diktaturen und autokratische Systeme „besiegen“ und sich moralisch über sie erheben kann.

Auch in China wandte sich die Führung mit dem Ende der Kulturrevolution von ideologiebestimmter Politik und extremen Gesellschaftsentwürfen ab; Pragmatismus und Realitätssinn bestimmten im Wesentlichen das Vorgehen der Führung in Peking. Zwar waren grundlegende Reformen im politischen System nicht gewollt und entsprechende Forderungen der Bevölkerung, insbesondere der Studenten im Juni 1989, wurden gewaltsam unterdrückt, doch hielt die Führung an Öffnung und Reform von Wirtschaft und Gesellschaft fest. Der internationale Run auf den chinesischen Markt begann. Das westliche Unternehmertum und dessen Kapital wollten sich die schier unendlichen Chancen von Produktionsmöglichkeiten, Investitionen und Absatz nicht entgehen lassen. Auch die Politik hoffte auf einen starken Partner, der natürlich – Schritt für Schritt – die „westlichen“ Werte, Regeln und Standards übernehmen sollte.

Chinas Bestreben – in einem Satz formuliert – besteht seit Herstellung der Einheit des Landes als Volksrepublik 1949 darin, das Land politisch, wirtschaftlich und technologisch so zu stärken, dass es Wohlstand für die Masse der Bevölkerung und territoriale Souveränität sichern kann. Dafür brauchte es nach der „Kulturrevolution“, als das Land völlig am Boden lag, den starken Westen. Das wusste die Führung und formulierte eine Politik, die viel Geld, viel Technologie und viel Wissen abschöpfte, ohne die genannten Ziele aus den Augen zu verlieren.

Die Sicherung materiellen Wohlstands und der territorialen Integrität des Landes in den Grenzen, wie sie aus chinesischer Sicht seit Jahrhunderten bestehen, waren und sind die Grundpfeiler der Politik Chinas. Die Traumata des 19. Jahrhunderts – hervorgerufen durch den Verlust des Anschlusses an den technologischen Fortschritt und der Kontrolle über das Land – sollen unbedingt aufgearbeitet und überwunden werden.

In der ersten Phase des wirtschaftlichen Wachstums und der technologischen Entwicklung sicherte die Außenpolitik 韬光养晦 (taoguangyanghui) das Umsetzen der Ziele ab: China verhielt sich außenpolitisch zurückhaltend und übernahm keinerlei bis wenig internationales Engagement. Wo immer es ging, verwies die chinesische Führung fast mantraartig auf den Grundsatz der Nichteinmischung, den sie selbst anwandte, ebenso aber auf internationaler Bühne forderte. Vor allem dann, wenn es eben um die sogenannte rote Linie, die Souveränität des Landes, ging. China hatte im Inneren ausreichend zu tun.

Die westliche Welt indes wünschte sich von Peking auch mehr Engagement in globalen Fragen und Krisen. Sie erwartete, dass sich China – mit westlichem Kapital und Know-how wieder erstarkt – ganz selbstverständlich in die bestehende westlich dominierte Weltordnung ein- und unterordnet, ihren Werten und Standards folgt.

Heute stellen alle fest, dass China gar nicht daran denkt (und nie daran dachte), das bestehende politische System zu ändern und sich den Regeln und Vorgaben der westlichen Welt zu fügen. Im Gegenteil, mit dem „Seidenstraßen-Projekt“ formulierte das Land eine eigene Sicht und Perspektive auf Formen und Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit und globaler Kooperation.

Das stört die bisherige westliche Sicht und führt dazu, dass in den USA und in Europa zunehmend befürchtet und davor gewarnt wird, dass China die bestehende Weltordnung durch eine eigene ersetzen wolle und für das eigene autokratische politische System weltweit werbe. Dortselbst spricht man allerdings vom „Sozialismus chinesischer Prägung“, was impliziert, dass man zumindest programmatisch nicht an eine Modellfunktion des eigenen Systems denkt. Die chinesische Führung hat auch nie einen Zweifel daran gelassen, dass das politische System im Lande den „chinesischen Bedingungen“ entsprechen muss. Damit ist neben der einzigartigen Geschichte, Kultur und Tradition auch die Größe von Territorium und Bevölkerung gemeint.

China ist seit Jahrhunderten ein zentralistisch regierter Staat. Sein auf der konfuzianischen Lehre basierendes Gesellschaftsmodell stellt die Gemeinschaft und deren materielles und soziales Wohlergehen in den Mittelpunkt, nicht die Freiheit und das Recht des Einzelnen. In China – und das ist mit dem Wissen um die zahlreichen Hungersnöte bis in die jüngste Vergangenheit zu verstehen – sieht man die Sicherung der Rechte auf Leben und Arbeiten als elementar und „höchstes Menschenrecht“ an. Doch um das Wohl und den Wohlstand der Gemeinschaft – 1,4 Milliarden Menschen – zu gewährleisten, braucht man eben auch, anders als in der Vergangenheit, internationale Zusammenarbeit und globale Kooperation. Daher formuliert die chinesische Führung, wie sie sich beides vorstellt. Die heutige wirtschaftliche und technologische Stärke des Landes gibt ihr neues Selbstvertrauen, zwingt sie aber auch, neue Wege zu gehen.

China bietet Programme und Projekte an und versucht sie nach seinen Vorstellungen zu verwirklichen: keine politische Einmischung, Angebot und Nachfrage, souveräne chinesische Umsetzung. Das führt zu neuen Abhängigkeiten, das schürt Interessenskonflikte, das bringt weltweit Unruhe mit sich.

Da sollte die übrige Welt ansetzen: China verfolgt handfeste wirtschaftliche und politische Interessen. Doch seine Führung versteht durchaus, dass sich andere Staaten ebenso selbstbewusst für eigene Interessen einsetzen. Sie hat gezeigt, dass sie pragmatisch kooperieren kann. Sie braucht politische Stabilität und Frieden, um den „Traum“ vom bescheidenen Wohlstand seiner Bevölkerung umzusetzen, und bietet sich als konstruktiver Partner an, wenn es um globale Themen und Krisen geht, möchte aber seine Souveränität und den eigenen Beitrag be- und geachtet wissen. Ja, es geht auch um die politische Macht im Land, um deren Erhalt und ihre Legitimierung. Ein Interesse, das auch in der westlichen Welt verstanden werden sollte.