Der Berliner Journalist Christian Walther hat ein Buch über das Berliner Schloss – manche sagen auch fälschlicherweise „Stadt-Schloss“ – geschrieben.
Höre ich jetzt ein leises Aufstöhnen?
Das wäre in diesem Falle unangebracht. Walther nimmt sich nämlich die kurze Etappe in der 500-jährigen Geschichte des Monumentalbaus in der Berliner Mitte vor, die im öffentlichen Bewusstsein der Stadt kaum präsent ist: Die Zeit zwischen dem 9. November 1918 – Karl Liebknecht proklamiert gegen 16.00 Uhr vor dem Hauptportal des Schlosses die „freie sozialistische Republik Deutschland“ – und dem Sommer 1951. Nach der Fertigstellung des von der SED-Führung mit großem Aufwand argumentierten Aufmarschplatzes zum 1. Mai verschwinden in jenen Wochen die letzten Trümmer des Schlosses und der Marx-Engels-Platz präsentiert sich „besenrein“.
Das Ringen um den Erhalt des nachdrücklich von Andreas Schlüter geprägten Baus nimmt in Walthers Buch angemessenen Platz ein. Nach dem großen Bombenangriff auf das Zentrum der Stadt vom 3. Februar 1945 brannte das Schloss vier Tage lang – und blieb dennoch in wesentlichen Teilen noch nutzbar. Christian Walther beschreibt das ausführlich am Beispiel der vier großen Nachkriegsausstellungen im Weißen Saal des Gebäudes, deren Reigen mit der Schau „Berlin baut“ im August 1946 eröffnet wurde. Dabei wurde übrigens der unter Federführung des Magistrats-Baustadtrates Hans Scharoun – des späteren Architekten von Philharmonie und Staatsbibliothek – entwickelte „Kollektivplan“ zum Wiederaufbau der Reichshauptstadt präsentiert. Scharoun wollte so radikal mit der noch vorhandenen Bausubstanz aufräumen, dass Christian Walther Jahrzehnte später mit freundlicher Zurückhaltung konstatiert, dass aus diesem Plan „erfreulicherweise“ nichts wurde. Stattdessen setzte sich – das verschweigt der Autor – Ulbricht mit seinen Stalinallee-Ideen durch.
Und Walter Ulbricht war es auch, der den Abriss des Schlosses durchdrückte, indem er die Herstellung eines „großen Demonstrationsplatzes“ am 22. Juli 1950 vor dem III. Parteitag der SED verkündete. Christian Walther deutet an, dass dieser Beschluss wohl auch ein Ergebnis des Machtkampfes zwischen dem ehemaligen Sozialdemokraten und nunmehrigen DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl – der sich für den Erhalt des Schlosses aussprach – und dem späteren Generalsekretär der SED war. Dass Ulbricht damit auch einer Vision Karl Liebknechts ins Gesicht sprang, wird ihm egal gewesen sein. Der Autor zitiert die Vossische Zeitung vom 10. November 1918: „Liebknecht verkündete, […], dass der Arbeiter- und Soldatenrat das Schloss in seinen Schutz genommen habe. Es sei kein beliebiges Privateigentum mehr, sondern Volkseigentum.“ Ulbricht, einem Mann mit ausgesprochen gutem Gedächtnis, wird die Haltung des KPD-Gründungsvorsitzenden zum Berliner Schloss bewusst gewesen sein.
Karl Liebknecht erlebte nicht mehr, dass aus dem Hohenzollernschloss ein Schloss der Republik wurde. Heute würde man verniedlichend von „Nachnutzung“ sprechen. Das ist falsch, es war eine Inbesitznahme durch die Republik und ihre Institutionen. Im Kern natürlich mit dem Schlossmuseum – die Räume wurden überwiegend vom Kunstgewerbemuseum bestückt, später kamen die leergeräumten ehemals kaiserlichen Wohnräume dazu. Aber es war auch Standort sozialer Einrichtungen. Breiten Raum widmet Walther den Aktivitäten der in das Gebäude eingezogenen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – der heutigen Max-Planck-Gesellschaft – und ihrer rechtswissenschaftlichen Institute. Der Autor fokussiert seine Darstellung auf die Biografien von Frauen in diesem in den 1920ern fast ausschließlich von Männern beherrschten Metier: Anne-Gudrun Meier-Scherling und Marguerite Wolff. Diesem Prinzip bleibt er in seiner gesamten Darstellung treu. Das ist originell und vermittelt spannende Einblicke in die Geschichte des 1933 ein abruptes Ende findenden Projektes, der Republik ein identitätsstiftendes Haus mit großem Symbolwert zu verschaffen.
Einen „Ausrutscher“ von diesem Darstellungsprinzip leistet er sich nur mit einem lesenswerten Exkurs über den Architekten Kurt Liebknecht, der entgegen den Intentionen seines berühmten Onkels und wider besseres Wissen zum willfährigen Vollstrecker der Abrissorder seiner Partei wurde. Dafür runden den Band wieder zwei Kapitel über Frauen ab, von denen eine – die Fotografin Eva Kemlein – noch kurz vor dem Einzug der Sprengkommandos den Torso des bedeutenden Barockdenkmals dokumentieren konnte, während die andere – die Nachkriegschefin der Berliner Schlösser und Gärten Margarete Kühn – einen verzweifelten Kampf gegen dessen Abriss führte. Immerhin gelang es Kühn unter dem prägenden Einfluss dieses Erlebens später, das Schloss Charlottenburg vor der Spitzhacke zu bewahren. Und was Christian Walther zu diesen Vorgängen zu sagen hat, liest man noch immer selten: „Die Neigung zum Abriss der Reste historischer Bauten, zur Abräumung ausgebombter Stadtkerne […] war auch im Westen Berlins und in Westdeutschland nach Kriegsende groß.“ Er verweist auf Hannover, Braunschweig und Köln …
Es ist heute leicht, über die damaligen Entscheidungen die Nase zu rümpfen. Walther hingegen zitiert Eva Kemlein, die sich in einem Tagesspiegel-Interview im Jahr 2000 an den Schloss-Abriss erinnert: „Der überwiegende Teil der Menschen, die den Krieg überstanden hatten und die zwischen den Ruinen lebten, war dafür, dass der Rest des Schlosses verschwindet […]. Das Schloss war völlig unwichtig.“
Mit dem späteren „Palast der Republik“ war das anders. Aber das wäre ein anderes Thema.
Der solide recherchierte und gut geschriebene Band ist übrigens vorzüglich bebildert!
Christian Walther: Des Kaisers Nachmieter. Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021, 184 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: „Nachnutzung“, Berliner Schloss, Christian Walther, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Wolfgang Brauer