Indien feiert in diesem Jahr den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Am 15.August wird Premierminister Narendra Modi bereits zum neunten Mal die traditionelle Rede vom historischen Roten Fort in Neu-Delhi halten und nicht versäumen, die Erfolge seiner hindunationalistischen Politik zu würdigen. Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru, die den Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft prägten, werden weit in die Vergangenheit gedrängt oder tot geschwiegen. Dabei leisteten sie für das neue, unabhängige Indien Entscheidendes, wie die Schaffung demokratischer Verfassungsprinzipien und die politische Struktur des Landes. Die nichtpaktgebundene Außenpolitik beeinflusste wesentlich das Weltgeschehen.
Die politische Landschaft von heute ist natürlicherweise mit der Lage im damaligen Indien nur schwer vergleichbar. Unverkennbar ist jedoch, dass sich in den Anschauungen der machtausübenden Elite ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Kam es damals darauf an, ein zerrissenes und unsäglich armes Land zu einen und dafür alle – auch die unterschiedlichsten Kräfte – einzubeziehen, so soll heute die indische Gesellschaft vor allem nach religiösen Anschauungen dauerhaft umgewandelt und damit differenziert werden.
Der Wandel in den Anschauungen herrschender Politiker ist zweifelsohne mit dem Aufkommen eines übersteigerten Nationalismus verbunden. In der Form des Hindunationalismus ist er schon lange in der indischen Gesellschaft vorhanden. Mit dem Aufstieg politischer Kräfte, die sich vor allem in der Indischen Volkspartei (BJP) formierten, wurde er gegen Ende des letzten Jahrhunderts eine bestimmende politische Kraft im Lande. Der Höhepunkt wurde 2014 erreicht, als die BJP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit errang und dieses Ergebnis fünf Jahre später eindrucksvoll wiederholen konnte.
Rückschauend ist zu beobachten, dass die Stärkung des Hindunationalismus und seine gesamtgesellschaftliche Etablierung in die Jahre fallen, in denen die Wirtschaft des Landes – von staatlichen Regulierungen befreit – sich ungestüm entwickelte. Insbesondere die enorme Stärkung des Großkapitals mit seinen Globalisierungsbestrebungen führte zu Differenzierungen im Kleinbürgertum. So entstandene Unsicherheiten und Existenzängste sind bekanntlich der ideale Nährboden für jegliche Art von Nationalismus.
Die politische Entwicklung Indiens in den letzten zehn Jahren ist sehr eng mit dem Namen Narendra Modi verbunden ist. Er ist die Speerspitze der hindunationalistischen Bewegung, die mit einer Vielzahl von Organisationen ganz Indien überzogen hat. Modi wurde schon als Kind mit deren Idealen vertraut gemacht. Als 8-jähriger wurde er in die Kaderorganisation RSS aufgenommen, die für Indoktrinierung und halbmilitärische Erziehung sorgt. Die Ausbildung zum Agitator und Funktionär waren für seine spätere politische Karriere entscheidend. Bis in die achtziger Jahre arbeitete er für die RSS, dann wechselte er in die BJP, den politisch-parlamentarischen Arm der Bewegung. Die politische Karriere gipfelte zunächst in der Funktion des Ministerpräsidenten seines Heimatstaates Gujarat, die er von 2001 bis 2014 inne hatte, ehe er zum Premierminister Indiens gewählt wurde.
Narendra Modi sucht den Kontakt zu den Massen, die er für die Wahlen und seinen Machterhalt braucht. Er versteht es, sein Charisma und rhetorisches Talent mit einem populistischen Auftreten zu verbinden. Neben seinen Anhängern begeistert er so auch viele politisch Unbeteiligte, die ihn als Staatsführer anerkennen. Mit seiner asketischen, an den Regeln der hinduistischen Religion geschulten Lebensweise wie Yoga-Übungen, Götterverehrung und Tempelbesuchen sowie seiner korruptionsfreien Amtsführung ist er der populärste Politiker Indiens geworden.
Narendra Modi entstammt einer niederen Unterkaste, sein Vater betrieb einen Teestand auf dem Bahnhof, wo er mit half. Hier lernte er die sozialen Probleme der indischen Gesellschaft kennen, seine Erfahrungen setzte er später meisterhaft im politischen Tageskampf ein. Auch war er sich als Premierminister nicht zu schade, mit einem Besen Straßen zu fegen und öffentlich für den Bau von Toiletten einzutreten. Undenkbare Handlungen für alle kastenbewussten Politiker, aber ein wirkungsvolles Ermutigungszeichen für die Ärmsten der Gesellschaft.
Seit einigen Jahren hat Modi sein Bild für die Außenwelt erweitert. Dem Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen wird das Image eines hinduistischen Gurus hinzu gefügt. Sein Gesicht ziert seitdem ein Vollbart, der an große spirituelle Persönlichkeiten der Vergangenheit erinnern soll. Bewusst wurde auch die heiligste Stadt der Hindus, Varanasi am Ganges, als sein Wahlbezirk gewählt. Seinen Tagesablauf bestimmen nun auch Besuche von Pilgerstätten – oft in fernen Gegenden des Himalaya –, die mit ausführlichen Meditationen verbunden sind.
Narendra Modi hat es so scheinbar mühelos geschafft, bereits sieben Jahre lang an der Spitze des indischen Staates das Geschehen zu bestimmen. Doch er schaut weiter und hat bereits die nächsten Parlamentswahlen in zwei Jahren im Blick. Die Macht des Hindunationalismus in Indien dauerhaft zu festigen, das ist das Hauptziel seines Wirkens.
Aktuelles Zeugnis dafür sind kürzlich stattgefundene Landtagswahlen in fünf indischen Bundesstaaten, von denen Modis Partei vier gewinnen konnte. Besondere Beachtung fanden die Wahlen im Unionsstaat Uttar Pradesh. Dieser ist mit 240 Millionen Einwohnern nicht nur der bevölkerungsreichste, er wird auch seit fünf Jahren von einem hinduistischen Mönch, der zugleich Oberpriester eines angesehenen Tempels ist, regiert. Ein aktiver Mönch und Priester als Ministerpräsident eines Unionsstaates, das ist wohl einmalig in der Geschichte des säkularen Indien. Obwohl nie so propagiert, scheint das ein Experiment zu sein – ein Versuch dafür, wie weit die Gesellschaft solch eine Lösung akzeptiert. Doch nach dem erneuten überzeugenden Wahlsieg der Hindunationalisten mit dem Priester Yogi Adityanath an der Spitze ist nun klar, wohin die Reise geht. Narendra Modi drückte es so aus: „Der Sieg in Uttar Pradesh ist der Fahrplan für die Parlamentswahlen 2024.“
Anders als von ihm gewohnt, zeichnete sich der Wahlkämpfer Modi dieses Mal vor allem durch ein kasten- und religionsübergreifendes Herangehen aus. Er sprach von einem Hinduismus, der für alle gut und mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden ist. Auch Yogi Adityanath, der in der Vergangenheit immer wieder offen und diskriminierend gegen die Muslime aufgetreten war, schloss sich dieser gemäßigten Haltung an. Er, erst 49 Jahre alt, wird nun als ein aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge des nunmehr 70-jährigen Narendra Modi angesehen. Doch auf Grund seiner polarisierenden Haltung ist er nicht unumstritten. Zudem wird die hindunationalistische Bewegung vorläufig nicht auf ihre Gallionsfigur Modi verzichten wollen und können.
Am 15.August wird die Welt auf Indien schauen und miterleben, wozu mittlerweile das Land fähig ist. In der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat es seine ehemaligen Kolonialherren Großbritannien und Frankreich eingeholt. In der IT-Technologie sind indische Fachkräfte und Unternehmen weltweit mit führend, die Pharmaindustrie entwickelt sich zur „Apotheke der Welt“. Seine Raketenindustrie schickt nach Belieben Satelliten ins All und führt Mond- und Marsmissionen durch. Als Krönung könnten noch in diesem Jahr indische Astronauten die Erde umkreisen, die Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren.
Die Gründungsväter des indischen Staates wären sicherlich stolz auf diese Leistungen. Doch zugleich wären sie entsetzt, wie ihre Ideale Demokratie, Gleichheit und Säkularismus mit Füßen getreten werden, wie einflussreiche Kräfte die Gesellschaft spalten und Andersgläubige ausgrenzen. Für sie war auch der Friede unteilbar. Angesichts der barbarischen Aktionen russischer Militärs gegen die ukrainische Bevölkerung hätten sie kein Verständnis dafür, dass ihr Staat aus nationalem Eigennutz eine Verurteilung der russischen Aggression vermeidet.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Hindunationalismus, Indien, Narendra Modi