25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Alltag unter großdeutscher Okkupation

von Herbert Bertsch

Nichts geschieht von selbst, sondern alles pflegt vom Menschen her zu geschehen.
Herodot

Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.
Hegel

Wer – von unmittelbar bis zu „in weitestem Sinne“ – mit Geschichte befaßt ist, unterliegt bei aller individuellen Freiheit objektiven Gegebenheiten. Der russische Soziologe Igor S. Kon (1928–2011) beschrieb die sich daraus ergebende Relativität bei Geschichtsschreibung und in der Geschichtswissenschaft so: „Der Historiker, der die Vergangenheit untersucht, befindet sich gleichzeitig selbst im Prozeß der Geschichte. Er beurteilt die Ereignisse der Vergangenheit im Lichte der Folgen, die diese Ereignisse zu der Zeit, da der Historiker lebt, erbracht haben. Aber die gegenwärtige Situation ist freilich auch nicht endgültig, und man kann schon im Voraus sagen, daß die folgenden Generationen in der Vergangenheit ebenfalls etwas sehen werden, was wir noch nicht sehen.“ Mitunter gerät er folglich bei „jähen Wendungen“ in Komplikationen, die sich auch von intensiver Fachkenntnis nicht kompensieren lassen.

Am 31. Januar 2022 wurde vom Herder-Verlag ein Geschichts-Kompendium vorgestellt, herausgegeben von Wolfgang Benz mit dem zutreffenden Titel „Deutsche Herrschaft. Nationalsozialistische Besatzung in Europa und die Folgen“, ein Sammelband selbstständiger Länderstudien von ganz Europa, jeweils etwa 20 Druckseiten. Voran, nach der Einleitung mit dem Titel „Terror als Herrschaftsprinzip nationalsozialistischer Okkupation“ der Beitrag des Herausgebers: „Strukturen deutscher Herrschaft in Europa“ als Übersichtskapitel, auch, um den Zusammenhang zu sichern. Vor allem aber, um die weitgehend identische Anlage und die Absichten der deutschen Besatzungspolitik zu definieren, dabei sorgsam die Unterschiede wahrend, die sich geographisch und politisch von West nach Ost in Europa als „Gefälle“ in der Intensität der Verbrechen darstellen.

Wie von Benz zu erfahren war, ging die Initiative zum Werk vom Cheflektor des Herder-Verlags aus mit diesem, eher begrenzt wirkenden Anspruch: „Dieses Buch füllt eine Lücke. Die Zivilbevölkerung in den nationalsozialistisch besetzten europäischen Nationen spielt in der Erinnerung an die Opfer bislang kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt dieser nach Ländern und Regionen gegliederten Darstellung stehen daher nicht militärische Ereignisse, sondern das Schicksal der Zivilbevölkerung, der Alltag unter der Okkupation, der Widerstand der Besetzten sowie der Terror der Besatzungsmacht. Das Buch leistet einen notwendigen Beitrag zur aktuellen und andauernden Debatte über ein angemessenes Gedenken für alle Opfer der NS-Besatzungspolitik. Ein Standardwerk zur Geschichte des nationalsozialistisch besetzten Europa mit Beiträgen von renommierten Expertinnen und Experten zu den einzelnen Ländern und Regionen.“

Dafür hat Benz das Adressatenverzeichnis der „Gemeinde“ intensiv in Anspruch genommen zu Kollegen und ehemaligen Mitarbeitern, die in der Regel schon mit umfassenden Einzeldarstellungen oder Sammelbänden auch in den behandelten Staaten oder Regionen vertreten sind, häufig auch bestrebt, dortige Forscher zum Thema einzubeziehen. Dieses Bemühen hat unterschiedliche Ergebnisse, so dass sich die Bedienung des Anspruchs, über „Folgen“ zu berichten, fast durchgängig als weniger gelungen erweist. In einigen Darstellungen gibt es Hinweise dazu, was dort gemacht werden müsste und könnte, in anderen wird ganz darauf verzichtet.

Dieser Mangel widerspiegelt zugleich ein wissenschaftliches und politisches Dilemma: Zwar ist es gelungen, alle Staaten und Gebiete zu erfassen, wie etwa einerseits Luxemburg, zur Annexion vorgesehen; andererseits wie Belarus oder die Ukraine; auch, wenn es sich um nur zeitweilige von den Besatzern als auch Kollaborateuren getragene Zweck-Konstruktionen handelt; oder um erst nach 1991 entstandene selbstständige Staaten aus dem Bestand der Sowjetunion oder der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien. Wie aber bekommt man die eigenen Vorstellungen und das Forschungsergebnis eingebracht, wenn es sich um Staaten oder Gebiete handelt, die ihre gesellschaftliche Grundstruktur zunächst nach der Besatzung und danach nochmals verändert haben? Zweifelsfrei wurde und wird unser Material als unsere „ Feder im Waffenverzeichnis“ der jeweiligen Politik gebraucht. Da kommen wir an politischen, auch geostrategischen Gegebenheiten nicht vorbei.

Einerseits geht es darum, die deutsche Besatzung als das zu charakterisieren, was es war; anderseits geht das aber nicht unbeeinflusst von dem gegenwärtigen Zustand, dass Deutschland zumindest eine Führungsmacht Europas ist, „mit vollen Taschen“, wie US-Präsident George Bush Senior seinerzeit befand: Unter Erweiterung von NATO und EG mit erklärtem Ziel, Russland trotz etabliertem Turbokapitalismus weiter als Gegner zu behandeln, jetzt unterstützt von Staaten in Ost-und Mitteleuropa, an denen vorbei – bildlich gesprochen – seinerzeit die sowjetischen Truppen von Wünsdorf bis an die gegenwärtige russische Grenze freudlos zurück marschierten. Im Selbstverständnis der NATO hingegen bedrohe Russland das ständig erweiterte NATO-Territorium. Diese geostrategische Konstellation ist tatsächlich unsicher und sehr fragil, rechtfertigt aber unter keinen Umständen eine machtpolitische, kriegerische Lösung mit aktuellen und andauernden Folgen; produziert also mehr „Unsicherheit“, statt als Basis eines notwendigerweise zu erneuernden gesamteuropäischen Sicherheitssystems zu wirken.

Aber: der langfristige Prozess darf von Geschichtsschreibung nicht nach Belieben terminiert werden. Geschichte ist die alles umfassende ständige Bewegung als Widerspiegelung von Leben in seiner Entwicklung – Rückschläge inbegriffen. Und das Ergebnis wird jeweils aus heutiger Warte so aufgeschrieben. Was kann ein Geschichtswerk, unter anderen Bedingungen konzipiert, in dieser Situation nützen? Passt das in die derzeitige Situation – oder sollte da etwas passend gemacht werden? Offenbar gibt es unterschiedliche, entgegengesetzte Interessen an der Wirklichkeit und Annäherung an die historische Wahrheit.

In der Werbekampagne war Wolfgang Benz auf die Berliner Landeszentrale für Politische Bildung in Berlin gekommen und wurde damit freundlich aufgenommen. Am 2. März fand eine Podiumsdiskussion in begrenztem Raum mit wenig öffentlichem Interesse mit Benz und zwei weiteren Autorinnen als Akteuren statt. Hierzu erfolgte schon vorab eine Fokussierung auf „Deutsche Herrschaft in Osteuropa 1938 bis 1945“, nachdem man sich dazu entschlossen hatte, die Veranstaltung überhaupt zu absolvieren.

Man hätte vermuten können, dass die substanziellen Beiträge zu Ukraine und Belarus, gerade auch der Aspekt der Kollaboration, in den Mittelpunkt der Diskussion hätten geraten können. Obgleich zur Fragestellung mit Bezügen zur aktuellen Kriegssituation aufgefordert, gab es lediglich zwei Meinungsäußerungen. Die Hauptfrage, von Benz vage aufgenommen, lautete: Warum diese Aufarbeitung, die juristische eingeschlossen, so spät, so ungern als Pflichtübung?

Die Veranstaltung kann über YouTube abgerufen werden. Bis zur Nacht des 13. März geschah dies 121 Mal, davon durch mich viermal. Kann das als Urteil gewertet werden, dieser Komplex kann als „uns nicht mehr betreffend“ weg? Bei dieser Gefährdung ist es desto wichtiger, als Erinnerung und Lehre zu bewahren, was Wolfgang Benz in seiner Einleitung mit Bezug auf das Werk so zusammenfasste: „Deutsche Herrschaft in Europa zwischen 1938 und 1945 bedeutete Ausbeutung, Unterdrückung, Versklavung und Vernichtung. Deutsche Herrschaft verwandelte – gegen Widerstand, aber auch durch Kollaboration unterstützt – die betroffenen Länder und Regionen Europas in eine Landschaft aus Zwangslagern, in denen Menschen beherrscht und bestraft, versklavt und getötet wurden. Millionen Menschen gingen während der Okkupation ihrer Heimat in Ghettos, im KZ, in Erschießungsgruben, auf Mordfeldern zugrunde. Hunger gehörte zu den Methoden deutscher Kriegskunst‘ und Besatzungsherrschaft. Der Belagerung Leningrads mit dem Massensterben im Winter 1941/42 durch Hunger und Erfrieren fielen hunderttausende Sowjetbürger zum Opfer. Die deutsche Besatzungsherrschaft war insgesamt von ungeklärten Rechtsverhältnissen und Antagonismen gekennzeichnet, die aber nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß alle Territorien unter deutscher Herrschaft Bestandteil einer Vision waren, nämlich der eines germanischen beziehungsweise germanisierten Großraums.“

Diese Einordnung nähert sich den Europa-Konzeptionen der Nazis, soweit diese nicht nur der Verschleierung der Eroberung von Ausbeutungs- und Lebensraum im Osten nützten. Doch, mit welcher Absicht auch immer: Das riesige Gebiet, „der Osten“ mit seinen damals hauptsächlichen Rohstoff-Betriebsmitteln für den modernen Kapitalismus, sollte nicht als integrierter Teil dazu gehören, stattdessen als modernes, stets erreichbares Kolonialgebiet dienen. Kern dieser Europastrategie war der Antisemitismus, verbunden mit dem antislawischen Antibolschewismus, wie wir dies, in der Personifizierung des jüdisch-bolschewistischen Untermenschen praktiziert, erfahren haben.

Nicht nur zur Erinnerung, als Nachschlagequelle, sondern auch als Beitrag zu Lehren aus der Geschichte haben wir es mit diesem Werk zu tun – und neben her auch darum, Hegel zumindest günstig zu relativieren, wenn schon nicht zu widerlegen.

Wolfgang Benz (Hg): Deutsche Herrschaft. Nationalsozialistische Besatzung in Europa und die Folgen, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2022, 480 Seiten, 28,00 Euro.