Als die über ein Vierteljahrhundert hinweg von Karl Ernst Osthaus und dessen Frau Gertrud zusammengetragene einzigartige Sammlung des Folkwang-Museums nach längeren Verhandlungen im Sommer 1922 ein neues Domizil in Essen fand, hatte wohl niemand eine Vorstellung davon, wie die Geschichte dort weitergehen würde … Gloria Köpnick und Rainer Stamm zeichnen in ihrer reich bebilderten, bisher unveröffentlichte Materialien einbeziehenden Monografie nicht allein das Leben des Sammlerehepaares Osthaus erstmals in dieser Breite nach, sie erzählen vor allem die Geschichte eines der bis heute wichtigsten europäischen Museen für moderne Kunst.
Ein Leben als Kaufmann, wie vom Vater gewollt, konnte sich der am 15. April 1874 im westfälischen Hagen geborene Osthaus nicht vorstellen. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: „Was konnte anderes der leitende Gedanke meines Lebens sein als – Schönheit?“ Zum Sommersemester 1893 immatrikulierte er sich an der Universität Kiel. Seine Interessen waren vielfältig: Ästhetik, Literatur, Philosophie. Nach einem Besuch in Kopenhagen wendete sich Osthaus der Kunstgeschichte zu und schrieb sich in München ein. Im Wintersemester 1894/95 studierte er an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, wechselte im Sommer nach Straßburg, kehrte zurück nach Berlin und ging 1896 nach Wien. Er verfasste Gedichte, arbeitete an einem Drama und veröffentlichte unter der Fragestellung „Worin hat die Entfremdung unserer Malerei vom deutschen Volk ihren Grund?“ seinen ersten kunsttheoretischen Aufsatz.
Im November 1896 fiel Osthaus das Erbe seiner Großeltern mütterlicherseits zu. Ein Vermögen von rund drei Millionen Mark machte es möglich, dass er sich in den folgenden Jahren seiner selbstgewählten Mission widmen konnte. Noch unentschlossen, ob es sich bei der von ihm beabsichtigten Gründung eines Museums um eine Gemäldegalerie oder um eine naturkundliche Sammlung handeln sollte, ging er im Herbst 1897 nach Bonn, um zwei Semester lang naturwissenschaftliche Vorlesungen zu hören. Im Verein Deutscher Studenten lernte Osthaus den Jurastudenten Walter Colsman kennen, der ihn mit seiner Schwester Gertrud bekannt machte. Die beiden heirateten im Oktober 1899 und widmeten sich fortan gemeinsam dem Aufbau ihres Museums.
Bereits 1898 hatte Osthaus als Standort für den Museumsneubau das Grundstück in der Hagener Hochstraße 73 erworben. Der Berliner Architekt Carl Gérard, der schon für die elterliche, ganz im Stil des wilhelminischen Historismus errichtete Villa „Elfriedenhöhe“ verantwortlich zeichnete, wurde mit der Planung beauftragt. Bauherr und Architekt entschieden sich für ein Gebäude im Stil der Neorenaissance, in dem das Ehepaar Osthaus auch wohnen sollte. Anders als geplant wurde ab Juni 1900 Henry van de Velde hinzugezogen. Osthaus hatte ihn kurz zuvor in Uccle bei Brüssel besucht. Beeindruckt von dessen ganz auf die Bedürfnisse der Bewohner ausgerichtetem Wohnhaus entschloss er sich, van de Velde den kompletten Innenausbau des Museums zu übertragen.
Als Nestor des Neuen Stils machte van de Velde Osthaus in den nächsten zwei Jahren zudem mit den neuesten Kunstströmungen Frankreichs, Belgiens und der Niederlande bekannt und beriet ihn bei Neuerwerbungen. Als das Museum mit dem von Osthaus gewählten Namen „Folkwang“ am 9. Juli 1902 eröffnet wurde, war es das weltweit erste, das Werke der Hauptvertreter des Neo-Impressionismus zeigte. Da Osthaus und seine Frau keiner Ankaufskommission gegenüber verpflichtet waren, konnten sie bei der Auswahl einzig und allein ihren Vorlieben und ihrem Geschmack folgen. So kauften sie Bilder von van Gogh, Gauguin, Cézanne, Matisse, Seurat, Munch, Nolde, Kirchner, Kokoschka, Schiele, Feininger und, und, und …
Osthaus, der am 27. März 1921 im italienischen Meran starb, hatte testamentarisch verfügt, dass nach seinem Tod eine öffentliche Körperschaft das Museum für einen angemessenen Bruchteil des Wertes übernehmen sollte. Insgeheim hatte die Stadt Hagen gehofft, das Museum als Stiftung zu übernehmen – doch nun mussten entsprechende Mittel für den Ankauf akquiriert werden. Die Bemühungen schlugen fehl und am Ende wurde die Folkwang-Sammlung am 24. Juni 1922 für 15 Millionen Mark an die Stadt Essen verkauft.
Einhundert Jahre später wird in Essen an dieses denkwürdige Ereignis erinnert. „Museum Folkwang 100“ – unter diesem Motto finden in diesem Jahr dort zahlreiche Ausstellungen und Veranstaltungen statt. Hervorzuheben sind vor allem die noch bis zum 15. Mai laufende Impressionistenschau „Renoir, Monet, Gauguin – Bilder einer fließenden Welt“ und die daran anschließende Exposition „Entdeckt – Verfemt – Gefeiert“, die ab dem 20. August rund 120 Werke des Expressionismus präsentieren wird.
Rainer Stamm und Gloria Köpnick: Karl Ernst und Gertrud Osthaus – Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt, Verlag C.H.Beck, München 2022, 368 Seiten, 29,95 Euro.
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