25. Jahrgang | Nummer 3 | 31. Januar 2022

Wir kochen besser. Ein Küchenkompendium

von Erhard Weinholz

Als ich kurz vor dem kalten Winter ’78/’79 im Prenzlauer Berg meine erste eigene Wohnung besetzt hatte, war das Wenige, das ich für die Küche brauchte, rasch beisammen: Meine Eltern trennten sich von ein paar alten silbernen Messern und Gabeln, Teelöffel hat mir einige Zeit später mein Freund H. zum Geburtstag geschenkt, mit einigen Bedenken, ob ich das nicht unpassend finden würde – aber sie kamen mir gerade recht. Im Jahr darauf beschenkte er mich mit dem (Ost-)Berliner Telefonbuch von 1965, das man in seiner Uni-Sektion ins Altpapier gesteckt hatte; es erinnert mich bis heute an ihn, der schon lange tot ist – noch immer blättere ich in dem Verzeichnis gern herum. Die Teelöffel und Messer meiner Erstausstattung dagegen sind fast alle verschwunden, und auch von dem Porzellan, das ich gleich nach dem Einzug in einem Laden in der Dimi, Ecke Schönhauser gekauft habe, sind mir nur zwei tiefe Teller geblieben – einiges hat vor Jahren die Flüchtlingshilfe bekommen, das meiste ging zu Bruch.

Mehr als verlorengegangen ist aber mit den Jahren hinzugekommen, vor allem durch meinen Sammeleifer, obendrein hat sich mein Haushalt eines Tages mit einem zweiten vereint. Nun aber haben wir begonnen, verstärkt auszurangieren. Weingläser: Weg damit, wenn wir schon mal Wein trinken, können wir auch Sektgläser nehmen. Biergläser? Völlig überflüssig. Backformen … leider ebenso. Eines Tages wird, was unser Eigentum war, ohnehin in alle Winde verstreut werden und an Orten enden, die da Trödelmarkt, Müllkippe oder Straßenrand heißen. Für letzteren spricht, zumindest aus der Sicht von Wohnungsentrümplern, dass man dort vieles kostenlos entsorgen kann – neulich lag hier um die Ecke in Plastesäcken einiges aus dem Nachlass eines Wilmersdorfer Ehepaares. Mitgenommen habe ich nur wenig, Papiere von einer Schiffsreise in den späten Achtzigern vor allem, darunter ein knappes Dutzend Speisekarten. Davon ein andermal.

Trotz aller Bemühungen stehen die Schübe, die Schrank- und Regalfächer in unserer Küche jedoch längst nicht leer. Die Tortenplatte brauchen wir nur alle zehn Jahre, aber sie scheint aus der Zeit des Art déco zu stammen, so etwas wirft man nicht weg. Und auch nicht den Eierschneider, der ein D.R.G.M. ist – man muss das Alter ehren. Er ist nun, nachdem er mir jahrelang nur als Harfe gedient hatte, als Salatkartoffelschneider sogar in die Küchenpraxis zurückgekehrt. Man nehme, um nur ein Verwendungsbeispiel zu nennen, so viel gekochte Kartoffeln, wie man braucht, zerschneide, salze und pfeffere sie, schmore halbierte Radieschen in Essig, bis sie weich und säuredurchzogen sind – es dauert eine Weile –, gebe sie zusammen mit Kochschinkenstreifen und geachtelten hartgekochten Eiern an die Kartoffeln, übergieße alles mit einer Sauce aus Magerjoghurt und scharfem Senf, umrühren, fertig. Schmeckt vorzüglich, wie der Adlershofer Fernsehkoch zu sagen pflegte.

Wir kochen noch tagtäglich selber, und das ist, wenn man Sonderangebote nutzen kann, ohne sich ins Auto setzen zu müssen, unschlagbar billig und zugleich ein sinnliches Vergnügen. So bleibt der Herd das Herz der Küche. Im Altertum war eine eigene Göttin für ihn zuständig, und das Feuer zu hüten war eine heilige Handlung. Doch auch unser ganz gewöhnlicher Gasherd verlangt Aufmerksamkeit, mal will er nicht anspringen, mal geht er klammheimlich aus. Und was, wenn Russland uns den Hahn zudreht? Früher führten ja alle Wege der SPD nach Moskau, da hätte man das unter Genossen bereden können … vorbei, vorbei. Zwar haben wir noch den Elektrokocher, was aber, wenn die Islamisten, die man ja auch nicht vergessen darf, obendrein die Stromversorgung lahmlegen? Selbst dann müssen wir nicht verzweifeln: Wir nehmen den Campingkocher in Betrieb.

Camping, das war mal ein Ausstieg aus dem grauen Alltag, Camping war bunt, war farbige Plaste, schillerndes Eloxal, war Party und Abenteuer. Das Lebens- und Lustgefühl, das sich damit verband, werden wir mit unserem kleinen Kocher nicht wiederherstellen, schon gar nicht im Katastrophenfall, doch eines kommt uns sehr gelegen: Die Küche, die er zulässt, ist so einfach wie unsere häusliche auch, die zu Suppe und Eintopf tendiert … zu löffeln ist so herrlich bequem. Typisch Osten (DDR sagt schon keiner mehr), Rückfall ins Mittelalter … Schimpfen sie zu Recht, die West-Kulinariker? Ich krame ein kleines blaues Heft hervor, ein Fettfleck auf dem Umschlag bezeugt, dass es einst zur Küchensphäre gehörte: Hier habe ich in den siebziger Jahren mehrmals zwei, drei Wochen lang notiert, was es bei meinen Eltern als Hauptmahlzeit gab. Im Januar ’78 zum Beispiel: Eisbein mit Sauerkraut; Karpfen, Chicoréerohkost; Rindersteak, Reis, Chicorée; Kotelett, Porree; Spiegelei, Wachsbohnen; Bouletten, Rosenkohl; Hähnchen, Mischgemüse; Reis mit Erbsen, Schinken, Chicorée … Zuletzt aufgezeichnet habe ich so etwas, anderswo allerdings, im Jahre 2010.

Dauernd Chicorée, war das typisch für die Ernährungsweise zwischen Fichtelberg und Kap Arkona? Natürlich nicht, es hatte damit eine besondere Bewandtnis: In unserem Dorf-HO wurde damals ein Korb voll davon angeboten, doch niemand wollte die Neuigkeit probieren, und so bekam meine Mutter die ganze Lieferung für einen Spottpreis. Ähnlich ging es mit der wunderbaren Preiselbeermarmelade, die eines Tages beim Konsum im Regal stand. Hersteller war der Vsjesojusnyj sojus potrebitelskich sojusov, der Allunionsverband der (sowjetischen) Konsumgenossenschaften; alte Mütterchen hatten die Beeren in Russlands tiefen Wäldern gesammelt. Wir genossen die Süßigkeit zu Eierkuchen und zum Tee, den meisten Dörflern aber war das Russische wohl suspekt. Mehr Anklang hatte die russische Butter gefunden, die in den frühen Sechzigern kurze Zeit im Angebot war. Die Landwirtschaft war damals vollständig vergenossenschaftet worden, mit viel Druck, die Produktion sank ab, doch die SU sprang ein – es war das letzte Mal, dass bei uns Butter lose verkauft wurde: Von Würfeln, die zehn Kilo oder mehr gewogen haben mögen, wurden die Portionen abgetrennt. Ansonsten kam hier nur selten etwas aus dem großen Bruderland auf den Tisch. Die DDR importierte Gurkenkonserven aus der ČSSR, aus Polen, Ungarn und Vietnam, aus China, Bulgarien und sogar aus dem volksdemokratischen Korea, kein anderes Produkt verband uns derart mit der weiten realsozialistischen Welt, die Sowjetunion aber ist damit in meiner Etikettsammlung nicht vertreten. Vermutlich, weil ihr Öl für uns wichtiger war als die Gurken, und dieses Öl wurde immer teurer.