25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Chile im Wandel – Wandel in Chile?

von Achim Wahl

Der 35-jährige Gabriel Boric, Kandidat der Mitte-links-Koalition Apruebo Dignidad (Ich stimme der Würde zu), gewann am 19. Dezember 2021 die Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile. Boric, der sich schon an der Studentenbewegung 2001 beteiligt hatte, war 2008 in den chilenischen Kongress gewählt worden. Im März dieses Jahres wird er das höchste Staatsamt von seinem rechten Vorgänger Sebastián Piñera übernehmen. Steht Chile vor einem Wandel?

Nach dem Putsch gegen die Unidad Popular Salvador Allendes 1973 wurde das Land 17 Jahre lang von der Militär-Unternehmer-Diktatur unter Augusto Pinochet beherrscht. Soziale Mobilisierungen in den 80er Jahren hatten Pinochets Position jedoch geschwächt. Um ihre Macht zu sichern, setzten das Unternehmertum und rechte Kräfte in den folgenden Jahren auf die Concertación de Partidos por la Democracia (Koalition der Parteien für die Demokratie), der sowohl die Christdemokratie (Partido Democrata Cristiano – PDC) als auch die Sozialistische Partei (Partido Socialista – PS) angehörten. Mit einer Regierung neoliberaler Orientierung wurden die Straffreiheit für Pinochet und die Beibehaltung der Verfassung von 1980 vereinbart, die im Kern bis heute in Kraft ist.

In der bürgerlichen Presse wurde Chile in den 90er Jahren als „Erfolgsland“ der „einvernehmlichen Demokratie“ beschrieben. Die Realität aber sieht bis heute anders aus. Mehr als eine Million Menschen sind arbeitslos. Bildungs- und Gesundheitssystem sind dem Markt untergeordnet. Covid-19 brachte Chile eine hohe Sterblichkeit. Teile der Territorien der indigenen Mapuche wurden von der Armee besetzt.

Im Oktober 2019 kam es in Chile zu einer breiten Volksbewegung gegen das neoliberale Modell. Spontan formierten sich soziale Kräfte, die zunächst gegen die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel protestiert hatten: Studenten, Frauenorganisationen, indigene Gruppen, prekär Beschäftigte, Kleinbauern, Händler und Umweltgruppen prangerten die soziale Ungleichheit an. Mehr als eine Million Menschen gingen unter der Losung „Chile wacht auf!“ auf die Straße. In den 42 Tagen des Aufstands gab es 30 Tote und tausende Verletzte. Präsident Piñera rief den Ausnahmezustand aus und erklärte: „Wir befinden uns im Krieg gegen einen machtvollen und unerbittlichen Feind.“ Mit aller Deutlichkeit wurde der Antagonismus zwischen der herrschenden Klasse und der Masse des Volkes sichtbar. Die Erhebung nahm den Charakter einer offenen Klassenauseinandersetzung an.

Piñera konnte sich vorerst mit dem Abschluss des „Vertrages für Sozialen Frieden und eine Neue Verfassung“ vom 15. November 2019 retten. Vereinbart wurde ein Referendum, bei dem zwei Fragen zur Abstimmung standen: ob eine neue Verfassung erarbeitet und wie eine verfassunggebende Versammlung gebildet werden solle. Beim Plebiszit am 25. Oktober 2020 stimmten 78 Prozent für die Erarbeitung einer neuen Verfassung und 79 Prozent für eine verfassunggebende Versammlung, deren Mitglieder durch allgemeine Wahlen bestimmt werden sollten. Vereitelt wurde der Versuch, die Hälfte der Vertreter vom Kongress bestimmen zu lassen.

Im Mai 2021 wurden die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents gewählt, 17 Sitze waren für Vertreter indigener Völker reserviert. Parteilose Kandidaten, von denen viele die sozialen Bewegungen repräsentieren, errangen 48 Sitze, die linke Liste „Apruebo Dignidad“ kam auf 28 Sitze. Die rechtskonservative Liste „Vamos por Chile“ erhielt 37 Sitze und verfehlte damit die angestrebte Sperrminorität von einem Drittel der Mandate: Die Rechte kam nur auf ein Viertel der Vertreter.

Die Versammlung ist paritätisch aus Männern und Frauen zusammengesetzt, vertreten sind alle Regionen des Landes. Behindert wird die Arbeit des Konvents allerdings durch ein Dekret Piñeras über die Einsetzung eines administrativen Sekretariats, das eine Kontrolle ausüben kann. Nachdem die Versammlung im Juli 2021 ihre Arbeit aufgenommen hatte, um binnen eines Jahres die neue Verfassung auszuarbeiten, wurde zunächst die Philologie-Professorin Elisa Loncón, eine Mapuche-Vertreterin, zur Präsidentin gewählt. Turnusgemäß nach sechs Monaten wird sie durch die parteilose Zahnmedizinerin María Elisa Quinteros aus dem linken Lager abgelöst, die sich jedoch erst im neunten Wahlgang durchsetzte. Wie sich zeigte, ist die Einheit der progressiven Kräfte – Voraussetzung für grundlegende Veränderungen – nicht garantiert. Es fehlt ein politisches Subjekt, das die einzelnen Kräfte vereint. Für eine progressive Mehrheit der Versammlung wird entscheidend sein, ob und wie sich die „Unabhängigen“ als transformatorische Kraft verhalten.

Der Kampf um die neue Verfassung, die ohne Rückgriff auf die Pinochet-Verfassung erarbeitet werden soll, war das Vorspiel für die Präsidenten- und Parlamentswahlen 2021.

Im ersten Wahlgang am 21. November 2021 waren auf den Kandidaten der ultrarechten Republikanischen Partei, den 55-jährigen Rechtsanwalt Felipe Kast, 28 Prozent der Stimmen entfallen. Er lag damit vor Gabriel Boric, dem Kandidaten der linken Allianz „Apruebo Dignidad“, der 25 Prozent der Stimmen erhielt.

Kast war unter der Losung „Frieden, Ordnung und Fortschritt“ offen gegen den Verfassungsprozess aufgetreten und hatte das Pinochet-Regime verteidigt. Die rechte Propaganda radikalisierte den Wahlkampf, indem sie die Aktivitäten der Drogenmafia und die Migration aus Haiti, Kolumbien und Venezuela für ihre Zwecke nutzte und die Gefahr der Destabilisierung und des Chaos beschwor. So errangen rechte Parteien im zur Hälfte erneuerten Senat und im Abgeordnetenhaus etwa 50 Prozent der Sitze. Wenngleich die progressiven Kräfte ihr Ergebnis hielten, war eine gewisse Erholung der Rechten nach der Niederlage bei den Wahlen zum Verfassungskonvent unübersehbar.

Offenkundig war nach diesem Wahlgang der Unterschied zum Ergebnis des vorangegangenen Referendums. Daran hatte sich noch mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligt, diesmal war die Wahlbeteiligung erheblich niedriger: Von 14,9 Millionen gaben nur 6,5 Millionen ihre Stimme ab, die indigene Bevölkerung beteiligte sich nur zu 23 Prozent. Sicher ist, dass die chilenische Gesellschaft einen grundlegenden Wandel will, aber eine tiefe Abneigung gegenüber der traditionellen Politik hegt, die keine essenziellen Veränderungen zustande gebracht hat. Betroffen davon sind auch linke Parteien, die ihre soziale Basis zum Teil verloren haben.

Mit Spannung wurde deshalb die Stichwahl am 19. Dezember erwartet. Mit 55,86 Prozent der Stimmen setzte sich der Mitte-links Kandidat Gabriel Boric durch, Kast erhielt 44,2 Prozent der Stimmen.

Zentrale Aspekte des Programms von Boric sind die Beseitigung der Folgen der neoliberalen Politik und der sozialen Ungleichheit, die Stärkung der Rechte der Frauen und der indigenen Bevölkerung wie auch die Rückführung des privaten Bildungs- und Gesundheitswesens in kommunale Trägerschaft. Damit vertrat er klare Gegenpositionen zur rechten Propaganda Kasts und verstand es, durch moderates Auftreten den mehrheitlichen Wunsch zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung als Priorität darzustellen. Die ehemalige sozialistische Präsidentin Michel Bachelet begrüßte seine Wahl ebenso wie die katholischen Bischöfe.

Der Sieg des Mitte-links-Kandidaten ist für Chile ein historisches Ereignis – ein Signal auch für den lateinamerikanischen Kontinent, das vorerst den weiteren Vormarsch der Rechten bremst. Abzuwarten bleibt, wie sich Boric in Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen Mitte-links-Regierungen Lateinamerikas positioniert.

Problematisch bleibt überdies die Zusammensetzung von Senat und Abgeordnetenhaus in Cile, in denen sich Boric nicht auf eine sichere Mehrheit stützen kann. Es wird für ihn darauf ankommen, einen Teil der „schweigenden“ Bevölkerung, also die Nichtwähler, für seine Politik zu gewinnen. Verstanden wird in Chile aber auch, dass erste Reformen und erste soziale Maßnahmen nicht sofort alle strukturellen Probleme des Landes lösen werden.