Der am 3. Oktober 2021 gestorbene Historiker Detlef Nakath war einer der besten Kenner der deutsch-deutschen Geschichte bis 1990 und der Entwicklung von der SED zur PDS in der Endzeit der DDR. Sein wissenschaftliches Hauptverdienst nach der deutschen Einheit lag auf der Herausgabe wichtiger Quelleneditionen, meist gemeinsam erarbeitet mit Gerd-Rüdiger Stephan. Zu nennen sind „Countdown zur deutschen Einheit. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen 1987–1990“ oder „‚Im Kreml brennt noch Licht‘. Die Spitzenkontakte zwischen SED/PDS und KPdSU 1989–1991“. Von besonderer Bedeutung ist das Handbuch „Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000“, um das niemand herumkommt, der sich ernsthaft mit der deutschen Nachkriegsgeschichte befasst. Auch das Protokoll des historischen „Außerordentlichen Parteitages der SED/PDS“ von 1989 hat er mit herausgegeben. Jüngst den Band „Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht“ 1989/1990.
Dagmar Enkelmann, heute Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, am 18. März 1990 als junge Abgeordnete in die freigewählte Volkskammer der DDR gewählt, erinnert in ihrem Geleitwort daran, dass der Außerordentliche Parteitag 1989 den „unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus als System“ vollzogen hatte. Es wurden ein neues Parteiprogramm und ein neues Statut sowie veränderte Führungsstrukturen der Partei beschlossen, der Name in SED-PDS geändert. Am 4. Februar 1990 beschloss der Vorstand, den Parteinamen in „Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)“ zu verändern. Dazwischen lagen zwei wichtige Ereignisse: am 20. und 21. Januar 1990 beriet die vom Außerordentlichen Parteitag gewählte Schiedskommission, die die frühere „Zentrale Parteikontrollkommission“ ersetzt hatte, über die Verantwortlichkeiten von 15 Mitgliedern und Kandidaten des SED-Politbüros, 14 von ihnen wurden aus der Partei ausgeschlossen. Zugleich fasste die Schiedskommission Beschlüsse zur „Rehabilitierung“ von 47 Genossen, die früher von der SED-Führung aus der Partei ausgeschlossen beziehungsweise repressiert worden waren. Die zweite wichtige Entscheidung war, dass sich der Parteivorstand – ebenfalls am 20. Januar 1990 – „mit großer Mehrheit“ gegen eine Auflösung der Partei aussprach.
Die in dem Band enthaltenen Materialien sind unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung. Aus Sicht der heutigen offiziösen Geschichtsdarstellung waren das lediglich Nebenerscheinungen, historisch ohne Belang, weil alles auf Helmut Kohls Vereinigungsprozess hinauslaufen musste. Das ist historisch falsch. Auch die meisten Akteure der DDR-Opposition wollten im Winter 1989/1990 nicht die Abschaffung der DDR, sondern deren demokratische Erneuerung. In diesem Sinne waren die kritischen Geister in der SED ihrerseits Teil des Aufbruchs im Herbst 1989. Ihnen war, wie der Journalist Tom Strohschneider in seinem Beitrag betont, die finale Krise der SED „nicht Anlass zum pro-kapitalistischen Frohlocken“, sondern sie drängten „auf einen erneuerten, einen demokratischen Sozialismus“. Ihre „Treue“ war nicht auf die realexistierende SED bezogen, sondern „auf sozialistische Werte und Ziele“. Zugleich wurde nach Schuldigen für die Lage gesucht. Dazu haben die Herausgeber auch zeitgenössische Kommentare in den Band aufgenommen; so war in der Zeitung Neues Deutschland am 22. Januar 1990 zu lesen: „Die Ausgeschlossenen, die zum Teil seit Jahrzehnten dem ehemaligen Politbüro angehörten, tragen durchweg persönliche Verantwortung für die existenzbedrohende Krise in der Partei und im Lande.“
Der Jurist Volkmar Schöneburg, 1995–2003 Vorsitzender der Bundesschiedskommission der PDS und 2009–2013 Justizminister des Landes Brandenburg, macht auf den grundsätzlichen Charakter der Zäsur aufmerksam, die in den hier abgedruckten Protokollen der Parteiordnungsverfahren zum Ausdruck kommt: „In der parteikommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts gewannen Verurteilung, Bestrafung und Rehabilitierung eine besondere politische wie ideologische Bedeutung, die eng mit dem politischen Weltbild von der Avantgarde-Partei und der bedingungslosen Unterwerfung unter ‚die Sache‘, unter die Mission der Partei verbunden war.“ Die Parteien der Kommunistischen Internationale waren „straff organisierte Bürgerkriegsparteien mit einer dementsprechenden missionarischen, quasi-religiösen sektenhaften Parteiidelogie. Es entfaltete sich das Szenario von Parteireinigung, Denunziation, Ketzergericht, Exkommunizierung, Verdammung und Verbannung bis hin zum Massenmord an den eigenen Gefolgsleuten.“
Insofern sind die Schiedsverfahren von 1990 Ausdruck des Übergangs. Einerseits sind beide Seiten – die früheren Politbüromitglieder wie die Akteure der Zentralen Schiedskommission – „zum Teil nach wie vor in diesem Weltbild befangen“. So sehen die ehemaligen Spitzenfunktionäre sich vielfach selbst als Belastung für die Neuaufstellung der Partei an und befürworten ihren Ausschluss. Andererseits waren diese Schiedsverfahren Ausgangspunkt für etwas Neues, des Lernens aus dem „Bruch mit dem Stalinismus“. Mit dem Statut der PDS von 1991 wurden die Parteistrafen abgeschafft, die Mitgliedschaft in der Partei ist keine besondere Ehre mehr, sondern steht jedem offen. Die Grenzen der Organisation sind offen und durchlässig.
Gerd-Rüdiger Stephan und Detlef Nakath haben zur Übersicht für den Leser eine genaue Liste der auf dem XI. Parteitag der SED 1986 gewählten Mitglieder der Parteifügung eingefügt, mit Geburtsdatum, Parteieintritt, Datum des Einrückens in Führungspositionen sowie Parteiausschluss. Erich Honecker, Erich Mielke, Günter Mittag, Willi Stoph und einige andere waren bereits im November oder Dezember 1989 aus der SED ausgeschlossen worden. So waren die 15, um die es im Januar 1990 ging, die verbliebenen Mitglieder, die nicht aus gesundheitlichen oder anderen Gründen verhindert waren. Die Edition enthält Vorläufer-Dokumente des Herbstes 1989, so den Beschluss über den Parteiausschluss Günter Mittags vom 23. November 1989, das Protokoll der letzten Tagung des ZK der SED vom 3. Dezember 1989 sowie Dokumente des Außerordentlichen Parteitages, sodann das Protokoll der Sitzung der Schiedskommission vom 20./21. Januar 1990. Den Hauptteil der Dokumentation bildet die Textfassung des Tonbandprotokolls dieser Sitzung. Ein stenographisches Protokoll der Beratung war nicht angefertigt worden. Der Tonbandmitschnitt wurde für diesen Band verschriftlicht, das heißt, etwaige Pausen durch das Einlegen eines neuen Tonbandes, unverständliche Wortfetzen und Lücken sind entsprechend berücksichtigt. Es folgen weitere Materialien, die mit den verhandelten und weiteren Fällen zu tun haben. Beigefügt sind Biographien, die der Historiker Michael Herms zusammengestellt hat.
Die Publikation, das resümiert Dagmar Enkelmann, gebe heutigen Mitgliedern und Sympathisanten der Linkspartei „höchst interessante Aufschlüsse über die Gründungsgeschichte ihrer Partei“ und dürfte, vor allem wegen der hier erstmals veröffentlichten Originalquellen, auch bei Sozialwissenschaftlern, Journalisten und Historikern Interesse finden. Das Interesse der Nachrückenden, die wieder gern eine Partei der Reinheit haben möchten und im Namen der politischen Korrektheit voller Eifer zum Ausschluss neigen, für dieses Zeitdokument dürfte sich eher in engen Grenzen halten. Für die weitere wissenschaftliche Bearbeitung linker Irrwege dagegen ist es von hohem Wert. So bleibt Detlef Nakath im Gedächtnis als einer jener aus der DDR kommenden Zeithistoriker, auf deren Schultern die Nachgeborenen sicher stehen können.
Gerd-Rüdiger Stephan/ Detlef Nakath (Hrsg.): Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht. Die Verfahren 1989/1990 in Protokollen und Dokumenten, Karl Dietz Verlag, Berlin 2020, 552 Seiten, 49,90 Euro.
Schlagwörter: Außerordentlicher Parteitag, Detlef Nakath, Erhard Crome, Gerd-Rüdiger Stephan, SED-PDS, SED-Politbüro