25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Kurz und bündig – Paul Cézanne

von Klaus Hammer

Er war Wegbereiter des Kubismus, hätte aber selbst kein kubistisches Gemälde schaffen können oder wollen. Die kubistische Abstraktion hätte ihm sicher nicht gefallen. Paul Cézannes ganze Bemühungen galten der körperhaften Welt – den Formen des Mont Saint-Victoire vor den Toren seiner Heimatstadt Aix-en-Provence, den übereinanderliegenden, unbearbeiteten Felsblöcken des Bibémus-Steinbruchs, der Präsentation von sechs rotbäckigen Äpfeln oder dem eigenen Antlitz. Was man aber seit 1890 in den Werken der letzten 15 Jahre seines Lebens – nachdem er Paris endgültig verlassen und sich in der Abgeschiedenheit von Aix-en-Provence niedergelassen hatte – vor allem findet, ist ein ungeheurer Drang, die Relativität des Sehens zu erforschen. Ebenso groß waren jedoch seine Zweifel, ob er dieses in Farbe auch nur annähernd auszudrücken vermochte. Kurz vor seinem Tode (1906) schrieb er an seinen Sohn: „Wenn man den gleichen Gegenstand von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, wird er jedes Mal wieder zu einem Motiv von höchstem Interesse und so ganz anders, dass ich mich wohl monatelang damit beschäftigen könnte, ohne meinen Standort zu wechseln – ich brauche mich nur einfach ein wenig nach rechts oder links zu beugen.“

So hat er wohl fünfzigmal den Mont Sainte-Victoire gezeichnet und gemalt, der durch diesen besessen forschenden Künstler zum bestanalysierten Berg in der Kunst werden sollte. Jedes Bild geht den Berg und die Entfernung vom Auge neu an. Die Skala reicht von einer bloßen Vibration aus Wasserfarbe am Horizont, mit durchscheinenden unruhigen Konturen gemalt, die sich in den zartgrünen und lavendel-farbenen Umrissen der Bäume im Vordergrund wiederholen, bis hin zur massiven Festigkeit des Mont Saint-Victoire, in der jedes Teilchen der Fläche in einen ununterbrochenen Zusammenhang gehört, eine Fläche der beständigen Form. Kein Maler vor Cézanne hat den Betrachter so offen an diesem Vorgang des Sehens teilnehmen lassen. Alles ist relativ. Der Zweifel wird als Thema in ein Gemälde mit eingebaut. Der Kubismus sollte diesen Gedanken dann noch weiterführen.

Cézanne war einer der wenigen Künstler, die fast jeden nach ihnen beeinflusst haben. Die Symbolisten schätzten den dekorativen Eigenwert seiner Arbeiten. Andere sahen ihn als späten Impressionisten, während sich die Kubisten eben gerade auf seinen Sinn für die Relativität der Struktur konzentrierten. Und nach ihnen ehrte man Cézanne als Vater der abstrakten Kunst. In seinem Spätwerk ist nichts leer – nicht einmal die Flecken unbemalter Leinwand. Diese geordnete Dialektik von Form und Farbe liegt seiner berühmten Bemerkung zugrunde, dass „nach der Natur zu malen nicht heißt, das Objekt abzumalen. Es ist die Wahrnehmung der eigenen Empfindungen“. Sein Ziel war eben nicht der flüchtige Augenblick, sondern die Dichte und Dauer der Erscheinung, nicht mehr eine Malerei, die sich in die Natur einfühlt, sondern ihr eine Ordnung entrissen hat, die im Kunstwerk jetzt selbständig gegenüber der Natur steht.

Der amerikanische Kunsthistoriker James H. Rubin, ein Spezialist der Geschichte, Theorie und Kritik der europäischen – vor allem der französischen – Kunst des 19. Jahrhunderts, hat nach dem Vorbild von Ulf Küsters „Hopper A-Z“, das dieser anlässlich seiner Ausstellung von Edward Hoppers Landschaftsbildern in der Fondation Beyeler in Riehen / Basel (2020) verfasste, Schlüsselbegriffe von A (Aix-en-Provence) bis Z (Émile Zola, der Cézannes künstlerische Anfänge wesentlich mitbestimmt hatte) aus dem Leben und Werk Cézannes zusammengestellt und erläutert, sodass dieses Taschenbuch als Nachschlagewerk dienen kann, sich aber auch wie eine auf den Punkt gebrachte Monographie lesen lässt. Vor allem aber bietet es so viele Impulse, Anregungen und Überlegungen, dass es zur (Weiter-)Beschäftigung mit dem Meister aus Aix-en-Provence – auch unter dem Aspekt seiner Wirkung auf die nachfolgenden Künstlergenerationen – geradezu einlädt. Der Leser wird von Motiv zu Motiv, von Thema zu Thema geführt und erlebt eindrucksvoll, wie das Porträt, die Landschaft, das Stillleben oder das große Thema der Badenden von Cézanne an die ihm nachfolgenden Künstler weitergegeben wird. Es ist die kaleidoskopische Vielfalt, die dieses Buch so lesenswert macht.

Der Zwang des Alphabets lässt dennoch manches Stichwort vermissen – so Paris, in dem Cézanne 28 Jahre gelebt, seine wesentlichen Eindrücke erfahren hat und in den Kreis der Impressionisten eingeführt wurde, von denen er sich dann wieder zurückzog. Wäre nicht auch Cézannes Regel, dass sich jeder Gegenstand in der Natur auf Kugel, Kegel und Zylinder als Grundform zurückführen lasse, einer Erörterung wert gewesen? Bei dem Stichwort „Tischtücher“ stockt man zunächst – warum nicht der aussagefähigere Begriff „Stillleben“? Aber dann werden Tischtücher als „Flächen, auf denen der Künstler mit Formen spielen kann und die selbst zum schöpferischen Bestandteil des bildnerischen Vorgangs werden“, so beziehungsreich erklärt, dass das Motiv Stillleben bei Cézanne in ein völlig neues Licht gerät.

Ja, Cézanne war vor allem ein bewundernswürdiger Maler von Gegenständen. Mit zunehmendem Alter scheint er auf unbelebte Objekte jene Art intimer Gefühle übertragen zu haben, die ein weniger isolierter Maler wohl Menschen zugedacht hätte. Menschen werden durch Gegenstände ersetzt oder sie werden zu Gegenständen. Der steinige Berg, der verlassene Steinbruch, die Häuser in der Provence, die zirpende Stille unter sich wölbenden Pinien oder die Äpfel und Pfirsiche in den Stillleben – sie führen ein Eigenleben, eine vom menschlichen Leben unabhängige Existenz. Diese Dinge hatten Dauer. Die Konflikte des leidenschaftlichen und gleichzeitig gehemmten Charakters Cézannes wurden durch sie abgewehrt und zurechtgerückt.

Das Heiterste in Cézannes Lebenswerk sind aber seine späten Aquarelle. Dieses Medium erforderte Schnelligkeit, und Cézanne benutzte es für die ersten Bilder von einem Motiv. Man kann fast sehen, wie die schnell gesetzten Tupfer von transparentem Rot, Gelb, Blau in der provenzalischen Hitze auf dem Zeichenblock trockneten, die Sonne fixierte sie, sodass er sie schnell überarbeiten konnte. Die Wasserfarbe gab ihm die Möglichkeit, Aspekte der Landschaft zu malen, die er mit einer schwereren Farbe nicht so schnell hätte fixieren können: das verschleierte und irisierende Licht, das weite Leuchten des frühen Morgens, das silbrige Aufschimmern des Olivenhains, wenn die Blätter abwechselnd ihre dunkle, dann ihre weißlich leuchtende Unterseite zeigen. Gerade diese Studien waren beispielhaft für die jüngeren französischen Maler, für die die Farbe seit ungefähr 1885 eine ganz neue Bedeutung erlangt hatte. Man folgte Cézanne, verließ Paris, ging nach Süden, in die Provence, an die Côte d’Azur.

James H. Rubin: Paul Cezanne A-Z. Aus dem Englischen von Sofia Blind, Hatje Cantz, Berlin 2021, 144 Seiten, 18,00 Euro.