In Dresden ist Vermeers berühmtes Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657–1659), eines der rätselhaftesten Bilder der Galerie Alte Meister, zu Hause. Es ist das erste von sechs Gemälden, in denen sich der holländische Maler mit dem Thema des Brieflesens oder Briefschreibens auseinandersetzte. Ein Vorhang auf der rechten Seite verdeckt zu einem Drittel den ebenso hohen wie tiefen Raum und scheint uns den Zugang zu dem Bild zu verwehren. Was in dem brieflesenden Mädchen im strengen Profil vorgeht – nur undeutlich spiegelt sich auch ihr Gesicht in den trüben Bleiglasfenstern wider –, dringt nicht nach außen, vollzieht sich nur in ihrem Innern. Dagegen mag das offene Fenster – zusammen mit dem Brief – wohl den Wunsch der jungen Frau veranschaulichen, aus der häuslichen Enge auszubrechen und in Kontakt mit der Außenwelt zu treten. Vermeer hat Einrichtungsstücke und stilllebenhafte Zutaten mal ergänzt und wieder entfernt und die Position des Mädchens im Raum verändert.
Wie der Dresdner Restaurator Christoph Schölzel nachgewiesen hat, ist der Künstler den Weg von einer gewissen Offenheit zu zunehmender Verhüllung und Abgeschlossenheit der Darstellung gegangen. Denn das damals so beliebte Liebesbrief-Motiv – und darum könnte es sich hier wohl handeln – hatte keineswegs einen nur harmlos-anekdotischen Charakter. Die Briefkultur ermöglichte es in dieser Zeit wachsenden Bildungsstandards vielen Frauen aus dem Bürgertum, ihre Gefühle dem Papier anzuvertrauen. Wenn ein Briefpartner aber bereits verheiratet war, ergab sich damit auch die Gefahr, an Hand solcher Schriftzeugnisse überführt werden zu können. Nun kommt aber dem von außen in den Raum strömenden Licht eine spirituelle Bedeutung zu, das den Raum und seine Objekte mit Symbolgehalt erfüllt. Kann man hier nur von einem Liebesbrief ausgehen oder muss es sich hier nicht um grundsätzliche Lebensfragen existentiellen Charakters handeln, denn warum wird sonst in diesem intimen Bild den Gedanken und Reflexionen des Betrachters ein so großer Spielraum gewährt?
Dieses Gemälde war 1742 als „Zugabe“ zu einer aus Frankreich erworbenen Sammlung und als angeblicher Rembrandt in den Besitz des sächsischen Kurfürsten August III. gekommen. Aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es dem damals wieder bekannt gewordenen Vermeer zugeschrieben. Bereits 1830 hatten die Dresdner Restauratoren festgestellt, dass das „Brieflesende Mädchen“ schon eine Restaurierung erfahren hatte, bei der die Rückwand des Zimmers übermalt worden sein musste. 1979 nach San Francisco ausgeliehen, wurde dort eine Röntgenaufnahme angefertigt und unter den Farbschichten im Vordergrund ein Glasrömer und an der Rückwand des Zimmers das Gemälde eines Cupido entdeckt. Als 2017 das Gemälde in Dresden erneut einer Reinigung und Restaurierung unterzogen wurde, blieb über dem Kopf des Mädchens ein zur umliegenden Malfläche kontrastierendes Stück Farbe stehen. Erst nach Konsultation einer Expertenkommission erfolgte eine Freilegung dieser Übermalung und es kam nun als „Bild im Bild“ der Cupido zum Vorschein, der auf die Masken der Verstellung und Täuschung tritt.
Damit schien das Rätsel des innehaltenden, gedankenversunkenen, in die Lektüre des Briefes vertieften Mädchens gelöst. Die Existenz des Liebesgottes lenkt jetzt die Lektüre der jungen Frau in eine bestimmte Richtung. Es handelt sich offensichtlich doch um einen Liebesbrief. Liebe überwindet Betrug und Lügnerei, hier wird die Botschaft der Liebe verkündet. Aber wird dadurch nicht der gedankliche und emotionale Horizont des Betrachters eingeschränkt? Während die leere Fläche des Hintergrundes die Konzentration ganz auf die junge Frau lenkte, wirkt jetzt das Bild von Details überladen, überfrachtet. Ja, es ist unruhiger, drangvoll dicht geworden. Es hat von seiner Rätselhaftigkeit verloren, ist jetzt eindeutiger geworden. Doch es hat seine Authentizität wiedergewonnen, ist nun ein wirkliches Original Vermeer geworden.
Die Geschichte des Dresdner „Brieflesenden Mädchens“, die Umstände seiner Restaurierung, die Konfrontation der alten mit der neuen Fassung, die Perspektivkonstruktionen und Lichteffekte, der wiederentdeckte Cupido, die Objekte mit Symbolgehalt wie der zurückgezogene Vorhang, der rahmende Teppich auf dem Tisch, das aufgebaute Stillleben im Vordergrund des Bildes, die Widerspiegelung des im Profil wiedergegebenen Mädchens im Fensterglas bilden das Ende und den Höhepunkt dieser wunderbaren Vermeer- Retrospektive im Dresdner Zwinger, die Besucher von Nah und Fern in Scharen anzieht und ihre Herzen höher schlagen lässt.
Von Vermeer konnten bisher nur 34 Bilder autorisiert werden, aber allein 10 Bilder werden gezeigt, die mit dem „Brieflesenden Mädchen“ in Beziehung stehen. Dazu kommen etwa 40 bis 50 Werke der holländischen Genremalerei der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, von Künstlern, die mit Vermeer in engem Austausch standen. Betonen diese aber vielfach das Ereignishafte oder begnügen sie sich mit einer moralischen Botschaft, so lassen Vermeers Darstellungen das Zeitgebundene und Vordergründige hinter sich und öffnen sich einer tiefgründigen, vielschichtigen Bildaussage.
Seine Kompositionen und vor allem seine Lichtführung haben Vermeer zu einem der heute weltweit bekanntesten Maler gemacht. Seine Bilder sind in ein mildes, aber alles offenbarendes Licht getaucht oder besser: sie werden von Licht durchflutet. In unfehlbarer Sicherheit vermag er seine Gestalten, einen Gegenstand dem anderen, zuzuordnen. Der Maler brilliert in der Darstellung von Stofflichkeit, Materialien und ihren Lichtreflexen. Seine Palette drückt sich in einer kühlen Farbskala, den gedämpften Gelb- und Blautönen, dem Schimmer von Gold und Grau aus, das im Schwarz verankert ist. Und seine Gemälde sind von einer so unbeschreiblichen Stille, dass selbst dem Betrachter der Atem stockt.
Hier sollen nur einige der wichtigsten Gemälde Vermeers betrachtet werden, die im Mittelpunkt der Ausstellung stehen. Sein Können erprobte der junge Maler zunächst auf dem Gebiet der Historienmalerei. In „Diana und ihre Gefährtinnen“ (um 1653/1654) rastet die mit einem Halbmonddiadem geschmückte Jagdgöttin Diana – sie galt als Inbegriff der Keuschheit – mit ihren Begleiterinnen, wobei jede ihren Beschäftigungen nachgeht. Vermeer hat das Thema Ovids „Metamorphosen“ entlehnt. War das Thema der Jagdgöttin Diana wegen der Darstellung der Nacktheit besonders beliebt, so lässt sich bei Vermeer eher eine Tendenz der Prüderie feststellen. Auf der abendlichen Szene lastet eine drückende, melancholische Stimmung. Doch ein weiches, unbestimmtes Licht lässt die Frauengestalten stärker hervortreten. Ist das dominierende Motiv des Fußwaschens als Symbol der Reinheit, der Sittenstrenge und des Schamgefühls zu verstehen oder muss es mit der Fußwaschung Jesu durch Maria Magdalena beziehungsweise der Christi an seinen Jüngern vor dem letzten Abendmahl in Beziehung gesetzt werden? Anregungen für sein Bild kann Vermeer durch den Amsterdamer Maler Jacob von Loo erhalten haben, dessen Gemälde „Diana mit ihren Nymphen“ (1646) die Göttin in der gleichen Sitzhaltung zeigt.
Das beeindruckende Gemälde „Bei der Kupplerin“ (1656) stellt dann die Verbindung zwischen den vorangegangenen frühen Historienbildern und den klassisch zurückhaltenden, lichtdurchfluteten Interieurs nach 1657 dar, für die Vermeer berühmt geworden ist. Eine Genreszene, ein „Bordellbild“ bietet sich dem Betrachter: Der Freier in roter Jacke hat seine Hand besitzergreifend auf den Busen des in Gelb gekleideten Freudenmädchens gelegt, das ein Weinglas in der Linken hält, während er mit der Rechten eine Münze in ihre geöffnete Hand drückt. Wachsam wird die Zahlung von der im Hintergrund stehenden, schwarz gekleideten Alten, der „Kupplerin“, verfolgt. Als Vermittler hat aber wohl der Musiker im historisierenden Kostüm fungiert, der sich an den linken Rand zurückgezogen und von der Gruppe abgesondert hat und der nun als einziger in Blickkontakt zum Betrachter getreten ist. Mit dem Trinkgefäß in der Hand scheint er nach der erfolgreich verlaufenen Aktion die Rolle des „Erzählers“ übernommen zu haben. Ihm ist wohl mehr das Vergnügen am Reiz des Verbotenen anzusehen, als dass er vor Alkohol, Betrug und Sittenverfall warnen will.
„Häuseransicht in Delft (Die kleine Straße)“ (um 1658) stellt scheinbar nur eine Straßenszene dar: Zwei Frauen sind mit häuslichen Arbeiten beschäftigt, Kinder spielen unter der Hausbank, aber welche Ruhe und wohlgefügte Form strahlen die mehrstöckige Hausfassade – wir sehen sie in einer Verkürzung, dennoch ist sie wirklich – und die angrenzenden Giebel, der bewölkte, Regen ankündigende Himmel aus. Das Dreieck des wolkigen Himmels wird zu dem umgekehrten Dreieck des Stufengiebels in Beziehung gesetzt, Es ist das Paradebeispiel einer holländischen Stadtlandschaft und Alltagsszene.
Sechs Jahre nach dem Dresdner „Brieflesenden Mädchen“ malte Vermeer die „Briefleserin in Blau“ (1663). Während die Lesende im Dresdner Frühwerk hinter einer zweifachen Barriere – Vorhang und Tisch – optisch abgeschirmt ist, hat man hier unmittelbar Zugang zum Privatbereich der Briefleserin. Die Farbgegensätze Blau und Gelb dominieren. Aber was dazwischen an Farbtönen eingesetzt wird – die Lichtquelle selbst ist nicht zu sehen –, verwandelt den Raum in etwas Ungewöhnliches, der sich von der Wirklichkeit abhebt. Eine neue Auffassung von Raum, Licht und Perspektive tritt uns entgegen. Vermeers Interieurszenen wandeln sich zu illusionistischen Raumeindrücken, deren Formen und Figuren in Farben, Licht und Schatten aufgelöst werden.
Seine Vorliebe für wohlausgewogene Flächendispositionen, sein Verfahren, komplexe Strukturen auf wenige Elemente zu reduzieren (dabei spielt die Geometrie eine wesentliche kompositorische Rolle), seine Art der Lichtbehandlung, bei der fast schon Pleinair-Wirkungen erreicht werden und die Schatten in farbigem Schimmer erscheinen, überhaupt seine einzigartige Weise des Farbauftrags, die sich erheblich von der in den Niederlanden damals verbreiteten porzellanhaft-glatten „Feinmalerei“ unterscheidet, machten Vermeer zu einer schon in seiner Zeit singulären Erscheinung. Das eigentliche Geheimnis aber, das wohl immer ungelöst bleiben wird und doch immer wieder von Neuem bezaubert, ist die Macht von Vermeers unfehlbarem Gespür für kühle Farben, für Harmonie und seine Fähigkeit, lichtdurchflutete Räume zu schaffen. Die Rätselhaftigkeit seiner Bilder – jedes scheint bei aller Lapidarität ein Geheimnis zu bergen – macht sie unvergänglich.
Johannes Vermeer. Vom Innehalten. Gemäldegalerie Alte Meister im Zwinger, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, täglich 10–18 Uhr, Montag geschlossen, bis 2. Januar. Katalog im Sandstein Verlag Dresden 48,00 Euro.
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