Wer kennt sie nicht, die berühmten Brüder Jacob und Wilhelm Grimm? Mit ihren Märchen sind sie vielen nachfolgenden Generationen aufs engste vertraut, und das bis heute. Wer aber meint, die Familiengeschichte der Grimms war idyllisch wie das romantische Fachwerkstädtchen Hanau, in dem die Brüder gelebt und gewirkt haben, sieht sich getäuscht.
Der in Hanau geborene Kulturwissenschaftler Michael Lemster, der bereits die Familiengeschichte der Mozarts genauer beleuchtet hat, widmete sich jetzt der Familie der beiden Sprachwissenschaftsbrüder. Sie hatten drei weitere Brüder und eine Schwester. Doch Lemster begnügt sich nicht mit dieser Generation, er kümmert sich auch um die Vorfahren und um Kinder und Enkel, die nach den „Gebrüdern“ kamen.
Bis ins 15. Jahrhundert zurück reicht der Stammbaum der Familie. Am Anfang stand vermutlich ein Peter Grym, um 1485 in der Freien Reichsstadt Friedberg geboren und 1508 in Frankfurt eingebürgert. Die „vorgeschichtlichen“ Grimms betrieben Landwirtschaft oder ein schlichtes Handwerk. Die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges brachten Not über die Region und die Familie. Die nachfolgenden Handelsleute Grimm kamen ebenfalls auf keinen grünen Zweig. Urgroßvater und Großvater der Brüder waren Geistliche des reformierten Glaubensbekenntnisses, Vater Philipp Wilhelm Grimm ein Jurist und Amtmann. Er heiratete die Tochter eines Hanauer Kanzleirats, Dorothea Zimmer, mit der er neun Kinder hatte, von denen drei allerdings früh starben.
So waren Jacob und Wilhelm die Ältesten der Geschwister. Ihre Biografie und ihr Wirken steht im Mittelpunkt der Familiengeschichte. Als Buben schliefen sie aus Platznot in einem Kinderbett, noch im hohen Alter lagen ihre Arbeitszimmer nebeneinander: ein gemeinsames Leben wie im Doppelpack – so jedenfalls die Vorstellung der Nachwelt – zwischen Büchern und Papier im Zeichen des Vormärz. Ebenso wie die Gemeinsamkeiten zeigt Lemster aber die unterschiedlichen Charaktere der Brüder. So veröffentlichte jeder neben den gemeinsamen Publikationen auch seine eigenen Bücher.
Daneben mussten sie wegen des frühen Todes der Eltern auch familiäre Pflichten übernehmen. Für die höhere Bildung der jüngeren Geschwister hatte das Geld der Familie nicht gereicht. Carl, ein Jahr nach Wilhelm geboren, wurde ein Kaufmann, über den bisher wenig bekannt war. Der Nächstgeborene Ferdinand war das „schwarze Schaf“ der Familie, er tat sich durch dubiose Geldgeschäfte hervor. Als er in einer Fortsetzungsgeschichte Details aus dem Privatleben der Familie preisgab, war der „größte anzunehmende Unfall“ der geschwisterlichen Beziehungen eingetreten. Der jüngste Bruder Ludwig („Lui“) gehörte zu den bedeutendsten deutschen Zeichnern und Radierern des 19. Jahrhunderts. In seinen Grafiken hat er auch vielfach das Familienleben der Grimms festgehalten. Schließlich war da noch die Schwester Charlotte, die Jüngste, die als einziges weibliches Familienmitglied bis zu ihrer Heirat den Familienhaushalt führen musste.
Von den nachfolgenden Generationen betrachtet Lemster etwas ausführlicher Herman Grimm, Wilhelms ältesten Sohn, der zum Freundeskreis der Goethe-Freundin Bettina von Arnim gehörte und deren Tochter Gisela heiratete. Als Kunsthistoriker trug er maßgeblich dazu bei, dass seine Disziplin sich als methodisch stringente Geistes- und Kulturwissenschaft etablierte. Zudem gehörte er zu den Begründern der Goethe-Gesellschaft. Im Berliner Antisemitismusstreit von 1879 verteidigte er dann allerdings die antisemitische Position Heinrich Treitschkes.
Lemster beleuchtet die Familiengeschichte der Grimms detailliert, ohne dabei auszuufern. Er widmet sich ihren berühmten wie auch ihren im Schatten stehenden Mitgliedern und deren Beziehungen zueinander. Immer unterhaltsam, mit Gespür für das Zeitkolorit und am Ende mit einem an die heutige Generation gerichteten Nachwort „200 Jahre Märchen“.
Michael Lemster: Die Grimms – Eine Familie und ihre Zeit, Benevento Verlag, München und Salzburg 2021, 480 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Familiengeschichte, Gebrüder Grimm, Genealogie, Manfred Orlick, Michael Lemster