Ich stelle mir das als ein Gemälde vor, gemalt von Harald Schulze im Farbrausch mit Renaissancefiguren: Unter dem Bild von Ernesto Che Guevara auf zwei mit Schnur zusammengebundenen Feldbetten lieben sich der Dichter und die Tochter des Generalsekretärs. Vor dem Fenster steht der Lada des Ministeriums für Staatssicherheit mit laufendem Motor. Die Scheinwerfer brennen und sie werfen, so stelle ich es mir vor, den martialischen Schatten des Fensterkreuzes an die Zimmerdecke. Was immer zu erinnern ist an das kleine Land, steckt in diesem Bild.
Alles erfunden natürlich, jede Ähnlichkeit Zufall, der Autor hat es seinem Buch „Der Traum zuvor – Storyline“ ja vorausgeschickt. Die beiden Liebenden lassen einander los, fallen erschöpft auf den Rücken, aber sie haben einander noch in der Hand. Und sie werden einander noch einmal begegnen, auf Kuba, der feiernden Insel bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten. Dann werden ihre Wege sich trennen und ihre Fragen. Bernd Rump wird am Sterbebett seines Freundes sitzen, des Regisseurs, mit dem er viele Stücke auf die Bühne gebracht hat, und die letzten Fragen werden noch immer die letzten Fragen sein. Das Leben hat sie nicht beantwortet. Es hat gelächelt im besten Falle, im schlimmeren zum Rotstift gegriffen, es hat dem Autor kein Dauervisum angeboten. Dafür kam die andere Welt dann zu ihm und fast allen anderen in seinem Buch, die er zufällig erfunden hat, und die doch seltsam lebendig und wiedererkennbar sind.
Was Bernd Rump in zehn Jahren auf mehr als 600 Seiten niederschrieb als Roman eines ungedrehten Films, das ist eine große Collage, zusammengefügt aus Momenten – das konnten auch Jahre sein – in denen er sich an der Wirklichkeit fast zerrieb, ohne die sich aber Geschichte nicht vorstellen lässt. Zumindest nicht die der Unterdrückten, die immer wieder von vorn beginnt und immer wieder gescheitert ist.
Woran eigentlich? Ich stelle mir eine Grafik vor von Nuria Quevedo: einen Mann, wie er stapft durch den Schlamm eben dieser Geschichte. Die Grautöne verbergen freundlich, wie viel davon Blut ist und wie viel Dreck. Eine Faust ist zu sehen und ein bärtiges Gesicht im Profil. Es verrät, dass der Mann nicht recht weiß, wohin mit der Faust. Ja, es ähnelt ein wenig den Blättern, die von der Künstlerin zu Cervantes „Quichote“ geschaffen wurden. Die Heiterkeit fehlt, auch noch nach dreißig Jahren.
Der Mann, den Bernd Rump „unser Mann“ nennt, hat einen Auftrag bekommen von seinem sterbenden Freund. Dieses Buch soll er schreiben. Nach all den Liedern und Textbüchern, die er schrieb. Und er sagt: „Wir sind geflogen. Wir sind den Letatlin geflogen.“ Dieses merkwürdige Flugfahrrad, Kunst- und Clowns- und Gaunerstück des Avantgardisten Tatlin. Dort reichten die Wurzeln hin des kleinen Theaters in Dresden, wo es Ernesto Cardenal, Bertolt Brecht und Michail Bulgakow abverlangt war, den Verhältnissen eine Stimme zu geben und dem kleinen Land eine Welt und eine Geschichte, eine andere als damals gelehrt wurde, eine andere als die heute opportune. Aber die Zukunft war schon unter die Ketten gekommen in Prag.
Herr Voland, der Teufel auf Besuch im Moskau nach der Revolution in Bulgakows „Meister und Margarita“, begleitet den Buchschreiber mit großer Geduld bis zu jener Szene, in der er ihm den frisch aus dem Mausoleum geklauten Uljanow abnimmt. Diese Szenen, die Beelzebubs Anwesenheit bedürfen, sind von einem strahlenden Surrealismus, mit dem der Hinkefuß sich vor seinem Vorbild nicht zu schämen braucht. Oder dem Vorbild des Vorbildes. Wenn jemand eine Antwort auf letzte Fragen versucht, lachen er und seinesgleichen dazwischen. Und wenn jemand all seine Weisheit verzweifelt ins Feuer wirft, sagen sie sanft: „Manuskripte brennen nicht“. Also: Was ist Zeit? Wer sind wir? Und was, zum Teufel, ist Revolution? Warum wird der Mensch seine Sehnsucht nicht los wie die zu Asche gewordenen Verheißungen und die glanzlosen Illusionen? Und warum fliegt der Engel der Geschichte, wie Paul Klee ihn malte und Walter Benjamin ihn beschrieb, weiter und weiter und wendet sich nicht und wendet nicht die Dinge, diesen Trümmerhaufen, von dem er kein Auge wendet, bis auch das nur noch eine blutige Höhle sein wird, in der ziellos der Sturm sich verfängt?
An seinen Fragen habe ich das Land wiedererkannt in diesem Buch. Plötzlich war ich zu Hause. Das fühlte sich merkwürdig an. Es war kein Museum, auch keine pathologische Sammlung. Obwohl gern einige so tun. Eine Vorratskammer eher. Vieles dort hatte sein Verfallsdatum längst überschritten, anderes nicht. Und manches liegt, vakuumverpackt, bis heute unberührt. Und da waren ja auch wir. Salz der Erde. Humus der Geschichte. Unsere Spuren hatten sich nicht nur gekreuzt. Wir hatten einander gekannt und manche der erfundenen Gestalten. Zufällig sah uns das ähnlich. Die Hymne auf die Frauen. Die Hommage auf den Lehrer. Die Zärtlichkeit für den Freund.
Dann steht man wieder in der Küche. Einer setzt sich die Kochmütze auf. Er hat die Partei aus der Kammer geholt. Sie roch nicht mehr gut. Wer weiß, wie lange sie genießbar bleibt. Der Autor weiß es auch nicht. Wie soll man ankommen, ohne loszugehen? Aber alle oder keiner, mischt ein Baggerfahrer aus dem Tagebau sich ein. Den lieben wir auch. Wenn jemand darüber schreibt wie Bernd Rump, rührt das her aus dem tiefen Bewusstsein, in der Geschichte der Menschheit zu leben, mit allem Vorher und Nachher im Strom, im Sturm, und in der Gewissheit, dass wir nur vom Anfang her leben können und nur vom Ende her erzählen. Rump will ins Ganze zurück, zurück in die Geschichte, die klaffende Lücke füllen. Mit sich. Mit Sinn.
Seine Erzählung schlägt große Bögen. Die Perspektive wechselt. Die Lebenden und die Toten, das Erlebte, das Gehörte und Gelesene finden Raum, der Text changiert in den Essay, die Handlung verliert sich zuweilen zwischen den Handelnden. Rump nimmt auf Genregrenzen keine Rücksicht. Es ist die Storyline, die allem vorausgeht, in die wir uns und andere hineinschreiben können, wenn wir wollen. Und das macht er auch. Die ganze Ahnengalerie vom Altertum bis heute, fünf nach zwölf. Die Mächtigen und die Ohnmächtigen. Die Söldner und die Partisanen.
Es lief ja wie am Schnürchen, zwei-, drei-, zehntausend Jahre lang: Hängen und hängen lassen. In den siebzig Jahren, in denen auch des Autors Leben steckt, kostete es nicht immer, das ist wahr, den Kopf, zumindest nicht den leeren. Ist das ein Trost? Wo ist der Neuanfang? Apostolos Santas und Manolis Glezos holten am 30. Mai 1941 die riesige Hakenkreuzfahne von der Akropolis herunter und hissten die geschändete griechische Flagge. Immer wieder kommen Menschen, die so etwas tun. Manchmal haben wir nicht viel mehr, was wir wissen. Aber wir müssen unsere eigene Geschichte erzählen. Niemand sonst wird das für uns tun. Keine Abrechnung. Keine Abbitte. Und kein: Ich hab’s ja gewusst. Der Teufel hört mit.
Bernd Rump: Der Traum zuvor – Storyline, 2. Auflage, Thelem Verlag 2021, 670 Seiten, 29,80 Euro.
Schlagwörter: "Der Traum zuvor. Storyline", Bernd Rump, Henry-Martin Klemt