Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 5. Januar 2009, Heft 1

Wir können nicht mehr

von André Hagel

Wie ich Krankenpfleger geworden bin? Das ist eine lange Geschichte. Ich bin 1968 mit 14 Jahren aus der Schule gekommen. Das Einzige, was es damals in unserem 1500-Einwohner-Dorf für Jugendliche gab, war eine Jugendrotkreuz-Gruppe. In der war ich Mitglied. Das hat mir sagenhaft viel Spaß gemacht. Es ging darum, Menschen zu helfen, und das war etwas, das ich schon von zu Hause mitbekommen hatte, von meinem Vater. Wenn man so will, lag das Helfenwollen schon in meiner Erziehung begründet. Je älter ich wurde, umso mehr gefiel mir der Gedanke, das auch beruflich zu machen: Menschen helfen.

Ich hatte mich eigentlich auch dafür entschieden, eine Krankenpflegeausbildung zu machen, aber weil ich erst 14 war, ging das damals nicht. Ich mußte etwas anderes machen und habe auf der Schachtanlage Emscher-Lippe in Datteln Schlosser gelernt. Diese Lehre habe ich auch gut absolviert. Aber dann hat die Schachtanlage leider zugemacht. Ich habe danach erst ein bißchen gezögert, weil ich noch etwas Geld verdienen wollte. Aber mit 21 habe ich mir gesagt: Jetzt oder nie. Ich bin zum Arbeitsamt gegangen, und die haben mir gesagt: »Krankenpfleger? Ja, die brauchen wir. Wenn Sie eine Umschulung zum Krankenpfleger machen wollen, bezahlen wir Ihnen das.« Ich habe also 1975 mit meiner Krankenpflegeausbildung angefangen, in einem Krankenhaus in Datteln. 1978 habe ich mein Examen gemacht und noch für ein gutes Dreivierteljahr weiter in dem Krankenhaus auf der Intensivstation gearbeitet.

Ich arbeite auf der Internistischen Intensivstation. Zurzeit haben wir neun Betten für Akutkranke, hinzu kommen sechs Betten als Aufnahmestation, für Patienten, die liegend reinkommen. Ich arbeite hauptsächlich im Intensivbereich. Das heißt: Alle Akutkranken, die mit Notarzt reinkommen – bei uns schwerpunktmäßig frische Herzinfarkte, schwere Lungenerkrankungen, schwere neurologische Erkrankungen – kommen zu uns auf die Intensivstation und werden von uns medizinisch und pflegerisch betreut. Wir beherrschen dementsprechend auch Notfallsituationen aus dem Effeff. Unsere Arbeit umfaßt das ganze Paket, angefangen von Schwerstpflegepatienten, die behutsam angefaßt werden müssen, bis hin zu Patienten, die schon wieder ein bißchen mobiler sind und die wir so fit machen, daß sie auf eine normale Station verlegt werden können, ohne daß da noch irgendwas passieren könnte.

Daß die Situation für Krankenhäuser in Deutschland zunehmend schwierig wird, merke ich ganz konkret in meinem Arbeitsalltag. Als ich 1978 im Intensivbereich zu arbeiten angefangen habe, war es so, daß wir in der Patientenpflege personell eine Eins-zu-eins-Betreuung hatten, sprich: ein Intensivpatient – eine Intensivpflegekraft. Das hat sich geändert. Im Laufe der Zeit ist aus dem Eins-zu-eins-Verhältnis ein Verhältnis eins zu drei geworden: Eine Intensivpflegekraft kümmert sich heute um drei Intensivpatienten. Drastisch ist die Entwicklung aber erst in den letzten zwei bis drei Jahren geworden: Immer mehr Personal wird nicht mehr ersetzt. Dementsprechend ist immer weniger Zeit für die Patienten vorhanden. Viel weniger, als man bräuchte, um Patienten so zu betreuen, wie es im Intensivbereich eigentlich sein müßte.

Es fehlt einfach die Zeit, sich mehr mit den Patienten zu beschäftigen. Es wird im Prinzip, in Anführungsstrichen gesprochen, das Nötigste gemacht, weil schon der nächste Patient auf seine Betreuung wartet. Durch diesen Zeitdruck reduziert sich die Pflege beinahe automatisch zunehmend auf das Nötigste. Wenn wir mehr Zeit für die Patienten hätten, könnten wir sie sogar manchmal viel schneller wieder so fit machen, daß sie auf eine Normalstation verlegt werden können. Diese Zeit aber fehlt uns einfach. Dadurch dauert es sogar manchmal ein paar Tage länger, Intensivpatienten so zu mobilisieren, daß sie ohne Gefahr auf eine Normalstation können.

Krankenpfleger war immer mein Traumjob. Ich habe es bis heute nicht bereut, daß ich Krankenpfleger geworden bin. Mir macht es Spaß, Menschen zu helfen, Menschen zu pflegen, zu sehen, wie Menschen von ihrer Krankheit geheilt werden können, daß sie – auch durch meine Arbeit – wieder gesund werden. Ich bin noch immer genauso gerne Krankenpfleger wie vor 30 Jahren. Aber: Früher war mein Kontakt zum Patienten viel intensiver. Heute fällt der zwangsläufig erheblich weniger intensiv aus, da in der Pflege immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern gepackt wird.

Es ist ein generelles Problem der Krankenpflege in Deutschland, daß sie in der Öffentlichkeit zu wenig beachtet wird. Die Pflege hat sich und ihre Anliegen noch nie großartig publik gemacht. Die Großdemonstration Ende September in Berlin war das erste Mal, daß die Krankenschwestern und -pfleger lautstark gesagt haben: Wir können nicht mehr – es muß etwas getan werden! Wir können teilweise wirklich nicht mehr. Die Stellenreduzierung macht sich so drastisch bemerkbar, daß wir viele Überstunden und immer weniger Freizeit haben. Bei uns zum Beispiel haben wir mit zwanzig Stellen 2500 Überstunden. Da hört es einfach irgendwann auf. Wir in der Krankenpflege haben fast immer stillgehalten. Aber jetzt ist es wirklich an der Zeit, daß etwas getan wird.

Die Politik kommt in dieser Sache ja keinen Schritt weiter: Erst sagen uns die Politiker, daß wir Stellen einsparen müssen. Als die Politiker aber hören, daß wir in Berlin auf die Straße gehen werden, kommen sie an und bieten uns 20000 neue Stellen. Es gibt in Deutschland 2100 Krankenhäuser. Heißt: Pro Krankenhaus soll es zehn Stellen mehr geben. Die Rechnung sieht aber so aus: Wir bauen 20 Stellen ab, bekommen zehn Stellen dazu – und haben am Ende immer noch zehn Stellen eingebüßt. Da sind wir doch wieder die Gearschten.

Was ich von den Gesundheitspolitikern fordere, ist: eine Bezahlung, wie wir sie verdient haben – und eine Krankenhausfinanzierung nicht auf eine Weise, die doch wieder nur auf unsere Kosten geht. Die drei Milliarden Euro, die die Krankenhäuser ab dem nächsten Jahr von den gesetzlichen Krankenkassen bekommen sollen, müssen wir ja doch alle durch unsere Krankenkassenbeiträge bezahlen. Die Politiker sollen sich einfallen lassen, woher sie noch Geld bekommen können. Denn so wie jetzt läuft es nach dem Motto: Die geben uns was – und wir bezahlen dafür. Das kann’s nicht sein.

Aufgezeichnet von André Hagel. Heinz Rüping, 54, arbeitet als Krankenpfleger in der Internistischen Intensivmedizin des Klinikums Ibbenbüren (Nordrhein-Westfalen). Er lebt in Hörstel. Die Passagen sind Bestandteil der jetzt von André Hagel für das Krankenhausfernsehen »Kanal-4« produzierten Reportage »Der lange Tag des Heinz Rüping«.