Wenn jüngere oder vor 30 Jahren weit entfernt von den Ereignissen in Berlin lebende Ausländer sich die alle Jahre wiederholten Fernsehaufnahmen vom „Sturm“ auf die Mauer angesehen haben, werde ich nicht nur gefragt, ob ich damals dabei war. Eine ebenfalls häufig gestellte Frage ist: „Sind das alles Ostberliner, die die Mauer erkletterten, andere hinaufzogen und feierten?“
Die Mauer, die im Fernsehen zu sehen ist, präsentiert sich meist bunt bemalt. Warum gibt es keine Bilder kletternder, feiernder junger Leute von der anderen, der östlichen Seite? Die wollten doch die Mauer abtragen! Die Mauerspechte aus dem Osten kamen nach meiner Beobachtung jedoch erst gegen Ende des Jahres 1989, Wochen nach der Mauereröffnung. Wie eine im August 2021 ausgestrahlte Dokumentation zeigte, waren es Westberliner, die als erste durch die Mauerzerlegung Gewinn und mediale Aufmerksamkeit erzielten.
Bis Ende 1989 war es kaum möglich, von Ostberliner Seite an den „antifaschistischen Schutzwall“ heranzukommen. Dort patrouillierten die Grenztruppen sogar noch, als schnell in die Mauer gehauene weitere Übergänge nach Westberlin „offiziell“ eröffnet wurden. So war’s am Leipziger Platz. Die östliche Mauerseite am dortigen Grenzabschnitt sah so trist aus wie zuvor. Da kletterte niemand hoch. Vielmehr musste ich mich auf dem Weg in die Westberliner Staatsbibliothek am Ende einer Menschenschlange anstellen und Pass oder Ausweis vorzeigen. Ja, ich wurde gar von einer jungen Zollmitarbeiterin aufgefordert, ihr zwecks Taschenkontrolle in die behelfsmäßig aufgestellte Baracke zu folgen. Meinen Aktenkoffer öffnete ich bereitwillig; als ich auch Hosen- und Manteltaschen entleeren sollte, gab ich kund, dass ich dies nur tun würde, wenn ich mein Gegenüber ebenso filzen könne. Ich war daraufhin aus der Baracke entlassen – straflos. Es hatte sich doch etwas geändert in der DDR!
Dieser Episode erinnerte ich mich, als mir die anfangs genannten Fragen wieder einmal in den Sinn kamen. Waren da etwa junge Menschen aus dem Osten mit Hammer und Sichel, pardon Meißel, und Leitern über die geöffnete Grenze geströmt, um die Mauer von der Westseite zu erstürmen? Zwei Jahre zuvor, mit einem Kollegen zum ersten Mal auf Dienstreise in Westberlin, waren wir wider alle Vorschriften zum Reichstag und zur Mauer gelaufen, hatten die bunte Bemalung betrachtet und hatten – etwas beeindruckt von dem Mauerwerk – gerufen: „Lasst uns rein!“
Nun also pickten Mauerspechte am Beton. Wozu ins Kaufhaus des Westens, in Supermärkte oder Plattenläden streben, wenn man ein Stück graue Mauer abhämmern konnte? Allerdings dachte wohl niemand daran, dass die kilometerlange Mauer in absehbarer Zeit nicht mehr vorhanden sein würde. Also doch andenkensuchende Ossis auf der Mauer? Oder sollte man tatsächlich annehmen müssen, dass die ersten Mauerspechte nicht Ost-, sondern Westberliner waren? Geriete dadurch ein über drei Jahrzehnte gepflegtes Narrativ in Gefahr?
In der kaum noch zu überblickenden Zahl an Filmen und Druckerzeugnissen über die Mauer gehen die Autoren in der Regel davon aus, dass so gut wie alle DDR-Bürger, zumindest geschätzt weit über 90 Prozent, das Monstrum beseitigt haben wollten – natürlich bis auf Honecker und andere Privilegierte, Stasi- und Parteigrößen.
War das wirklich so? Als Beleg wird oft das Ergebnis der Wahlen am 18. März 1990 angeführt. Aber kann das als Erklärung gelten? Weder die Ost- noch die Westdeutschen sind gefragt worden, ob sie eine (so rasche) Vereinigung wünschten. Stimmungsschwankungen sind im Wahlvolk nichts Unbekanntes. Im Dezember 1989 stimmten die Noch-DDR-Bürger für eine „Beibehaltung der DDR als souveräner Staat“. Anfang Februar 1990 befürworteten angeblich 79 Prozent eine „Wiedervereinigung“. Wissenschaftlichen Studien zufolge basierte der Sinneswandel auf Helmut Kohls Dresdner Versprechungen und der Zusicherung, die D-Mark einzuführen.
Bei den Ostberliner Demonstrationen im Herbst 1989 hörte man kaum den Ruf „Wir sind ein Volk“, vielmehr hieß es „Wir sind das Volk“. Mittlerweile ist bekannt, wie der Losungswandel bewerkstelligt wurde. Dazu trugen nicht nur die Kohl’schen Verheißungen auf „blühende Landschaften“ bei. Nach Sachsen wurden ganze Busse voll von Bayern zu Demonstrationen gekarrt; in Berlin wurden junge Leute in einem Westberliner Lokal von einem finanzkräftigen Unternehmer geworben, aus „das“ ein „ein“ zu machen.
Diese Vorgänge sind dank journalistischer Recherchen längst ans Tageslicht gelangt. Aber werden sie in den vielen Erinnerungsberichten und Dokumentationen erwähnt? Werden sie wenigstens in wissenschaftlichen Untersuchungen thematisiert? Kaum, denn in der Geisteswissenschaft hat man sich heute an das allgemeine Narrativ zu halten. Das erinnert doch etwas an DDR-Verhältnisse.
Die Meinung, dass so gut wie alle Ostdeutschen die Mauer weghaben wollten, wird auch in der deutschen Zeitgeschichtsforschung (mit wenigen Ausnahmen) als so gut wie unerschütterlich anerkannt. Also hört und sieht man immer wieder die gleichen platten Begründungen für Mauerbau und -beseitigung. Ebenso wie die angebliche Lüge Walter Ulbrichts, der auf einer Pressekonferenz einige Zeit vor der Grenzschließung versichert hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Auch dass der DDR-Politiker nicht einsam im Moskauer Hotel Lux gesessen und mit Zuckerwürfeln den Bau der Mauer geübt hat (wie im Spielfilm „Hotel Lux“ von Bully Herbig parodiert), geht anscheinend nicht in die Köpfe derer, die noch heute nichts über die historischen Gründe des Mauerbaus wissen wollen. Eigentlich sollte bekannt sein, dass Ulbricht vom Moskauer Beschluss, eine drastische Grenzschließung zu veranlassen, erst nach seiner Pressekonferenz erfuhr.
Selbst in wissenschaftlichen Abhandlungen wird kaum darauf hingewiesen, dass die Grenzschließung zwar nicht mit dem Westberliner Senat, aber mit den tatsächlich im Westen Verantwortlichen, also mit Washington, abgesprochen war. Niemand wird bestreiten, dass der gravierende Schritt auch Not und Verzweiflung in Familien zur Folge hatte. Andererseits hatte die DDR infolge der Abwerbung von Fachkräften und Studenten, die eine kostenfreie Ausbildung genossen hatten, erhebliche Einbußen erlitten. Die Tatsache, dass Westberliner (und die Westalliierten übrigens Konsumgüter bis zum Fall der Mauer) im Osten billig subventionierte Lebensmittel einkaufen konnten, wird oft verschwiegen. Ganz abgesehen von denjenigen Ostberlinern, die im Westen der Stadt arbeiteten und ihr Westgeld zu einem sehr günstigen Kurs umtauschen konnten. Auch das wurde seinerzeit in der DDR oftmals als Begründung für den Mauerbau genannt. Treffen diese Gründe etwa nicht zu?
In Schulen und der politischen Bildung wird ungeachtet des historischen Kontextes wie ein Mantra die Vorstellung verbreitet, dass sich fast die gesamte DDR-Bevölkerung eingesperrt gefühlt habe. Nun aber kommt ein Historiker daher und schreibt auf der Basis interner Polizei-, SED- und Staatssicherheitsberichte, Zeitzeugeninterviews und der Ergebnisse einer aktuellen Umfrage ein Buch, in dem er belegt, dass es anders war. In einem Interview, das die Berliner Zeitung am 30. Juli 2021 veröffentlichte, sagte der Autor Robert Rauh, dass „die Mehrheit der Menschen in der DDR gar nicht gegen die Mauer“ war. Viele hätten „den Mauerbau akzeptiert, einige sogar begrüßt“.
Auf einen hysterischen Aufschrei, vornehmlich von Westberlinern, musste man nach diesen so wenig mainstream-gemäßen Aussagen nicht lange warten. In einem Leserbrief an den Tagesspiegel sprach ein W.R.Z. dem Wissenschaftler jede Kompetenz ab: „Mehr an Verfälschung der Wirklichkeit zum Mauerbau geht nicht.“ Die Mauer hätte „natürlich“ nur „jene Minderheit der DDR-Bürger“ akzeptiert, „die in diesem System der Unterdrückung persönliche Vorteile genossen.“ So und ähnlich lauten die Denkmuster, deren Starre dogmatische SED-Ideologen neidisch machen könnte.
Längst ist es an der Zeit, die aktuelle deutsche Zeitgeschichtsschreibung zu revidieren. Ein (Ostberliner) Leserbriefschreiber hoffte denn auch, dass die „30-jährige Monotonie von Stasi, Ausreiseanträgen und Fluchtversuchen“ ein Ende hat. Und damit wären wir bei Gründen für den tiefsitzenden Missmut vieler Ostdeutscher.
Robert Rauh: „Die Mauer war doch richtig!“ Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen. be.bra-Verlag, Berlin 2021, 208 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Berliner Mauer, Geschichte, Robert Rauh, Ulrich van der Heyden