Am 20. August 2021 ging vor dem Berliner Landesarbeitsgericht eine skandalträchtige Affaire sondergleichen zu Ende: Seit Februar 2020 versucht die Berliner Bildungsverwaltung sowohl den Direktor der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik, den Tanzwissenschaftler Prof. Ralf Stabel, als auch den künstlerischen Leiter der Einrichtung, den Tänzer und Choreographen Prof. Gregor Seyffert loszuwerden. Reinhard Wengierek hatte im Mai 2020 im Blättchen über die Vorgeschichte dieses beispiellosen Rauswurfes berichtet. Bis zum genannten Termin hat das Land Berlin – vertreten durch die Senatorin Sandra Scheeres (SPD) und deren Staatssekretärin Beate Stoffers (SPD) – insgesamt vier fristlose Kündigungen ausgesprochen. Alle landeten vor dem Landesarbeitsgericht. Alle wurden von diesem kassiert. Alle Berufungsverfahren gingen zugunsten Stabels und Seyfferts aus. „Sie haben nichts, was Sie … vortragen können“, stellte eine konsternierte Richterin in einer der Verhandlungen fest. „Sie verwechseln hier vielleicht einen Angestellten mit einem Politiker. Den können Sie ohne Gründe entlassen.“
Auslöser der Affaire war ein Dossier „Betreff: Intransparenz, Führungslosigkeit und einseitige Leistungsorientierung an der SBB und SfA und daraus resultierend wachsende Potentiale von Kindeswohlgefährdung“, das von vier anonym agierenden Personen am 8. Januar 2020 in die Öffentlichkeit lanciert wurde. Die rbb-Abendschau berichtete prompt von angeblich unsäglichen Zuständen an der Schule. Das war die Initialzündung. Die Senatorin reagierte zunächst mit der Freistellung des Schulleiters, dann erhielten Stabel und Seyffert Hausverbot – es folgten die Kündigungsorgien.
Der Hauptvorwurf lautete, Stabel und Seyffert seien Fällen von Mobbing, Bodyshaming und Essstörungen nicht nachgegangen. Es sei zu physischen und psychischen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen gekommen. Die Verwaltung setzte eine Expertenkommission ein – in der allerdings keine Experten für Tanzausbildung saßen, niemand, der auch nur entfernt mit dieser nicht nur in Berlin besonderen Schule vertraut war. Es folgte eine „Unabhängige Clearingstelle“. Diese legte am 30. August 2020 ihren Abschlussbericht vor. Im Bericht ist von einem „Klima der Angst die Rede“ – „Ungezügelt zeichnete die Clearingstelle ein Bild wie aus einer Strafanstalt mit sexuellen Übergriffen jeder Art: ‚Alles, außer Vergewaltigung‘“, brachte Birgit Walter in der Berliner Zeitung dessen Aussagen auf den Punkt.
Liest man Dossier und Bericht gut ein Jahr später, reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, weshalb es bis heute zu keiner Strafanzeige gekommen ist. Angesichts der aufgelisteten – vor Gericht unbewiesen gebliebenen – Schandtaten wäre die nachgerade zwingend gewesen. Stimmte das alles, hätte sich die Bildungsverwaltung der Mittäterschaft durch Unterlassen schuldig gemacht. Stattdessen inszenierte sie „ein Medienspektakel“, wie der Medienrechtler Johannes Weberling im Mai 2020 in der Berliner Zeitung feststellte. Weberling merkte zudem an, dass in Deutschland „in Konfliktfällen immer noch unabhängige Richter und keine Senatorin“ entscheiden würden. Diese wolle möglicherweise so „von ihrem Missmanagement in der Schulpolitik“ ablenken.
Die beiden Leiter wurden rausgeworfen, „zwei überaus rabiate Lehrkräfte“ (Birgit Walter) waren zum Schuljahresbeginn 2020/2021 aber immer noch an der Schule tätig. Gegen genau die beiden waren einige der genannten Vorwürfe erhoben worden. Stabel hatte die seinerzeit nach eigener Aussage der Dienstherrin, also der Scheeres-Verwaltung, gemeldet. Als Schulleiter hatte er keine disziplinarischen Befugnisse. Weshalb die Verwaltung untätig blieb, dürfte inzwischen klar sein.
Es ging weniger um die Zustände an der Schule. Es ging darum, zwei ungeliebte und störende Persönlichkeiten loszuwerden, um der Schule ein „neues Profil“ verpassen zu können. Am 23. Januar 2020 hatte sich die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Marianne Burkert-Eulitz, verplappert: „Die anderen Eliteschulen des Sports müsse man sich auch anschauen. Es gebe Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung.“ So das Ausschussprotokoll.
Die gleichmacherische Bildungspolitikstrategie der aktuellen Koalition zielt ab auf eine Art Heckenscheren-Pädagogik. Sogenannte „Elite“ ist verdächtig. Die Förderung von Spitzenleistungen sei Elitebildung. Das hat nach deren Auffassung an öffentlichen Schulen nichts zu suchen. Ausgerechnet sozialdemokratisch geführte Bildungspolitik tut offenbar alles, um den privaten Anbietern nicht ins Gehege zu kommen. Wer „Spitze“ sein will, soll gefälligst zahlen. Das stand übrigens auch hinter dem – aktuell gescheiterten – Versuch einer Novellierung des Berliner Schulgesetzes noch vor den Wahlen. Die Berliner Sportschulen sollten sehr wachsam sein …
Dass Burkert-Eulitz die Schule für Ballett und Artistik mit Sportschulen gleichsetzt – geschenkt. Jede und jeder blamiert sich so gut wie sie, respektive er, kann. Dass die tonangebenden Damen des Berliner Bildungsausschusses sich weniger als kritisch Begleitende des Schulsenates denn als Hofhunde der Senatorin verstehen, ist allerdings nicht hinnehmbar. Das Berliner Parlament vernachlässigt hier seine verfassungsgemäß vorgeschriebenen Kontrollpflichten auf geradezu sträfliche Weise. Am 19. Mai 2020 warfen die drei bildungspolitischen Sprecherinnen der Koalition – neben Burkert-Eulitz sind das Maja Lasić (SPD) und Regina Kittler (DIE LINKE) – den Kritikern des Senatsvorgehens „Instrumentalisierung“ der Schülerinnen und Schüler und „Untergrabung“ des Kinder- und Jugendschutzes vor. Auch das Wort Denunziantentum fällt. Sie meinen allerdings nicht die Autoren des ominösen „Dossiers“ und des Abschlussberichtes der Clearingstelle.
Die Abgeordnete Kittler schoss sich damit ein Eigentor. Im Protokoll der Schulausschussberatung des Landesparlamentes vom 10. Juni 2021 ist nachzulesen, „ihres Wissens verfüge der ehemalige Schulleiter [gemeint ist Prof. Ralf Stabel – d. Vf.] über keinerlei Kenntnisse oder Fähigkeiten, die der Ausbildung für das Lehramt entsprächen oder sogar darüber hinausgingen“. Wenn das kein Denunziantentum ist! Als bildungspolitische Sprecherin der LINKEN muss sie auch nicht wissen, dass Stabel (und Seyffert) die Schule 17 Jahre lang erfolgreich leiteten und in die Spitzenliga der künstlerischen Bildungseinrichtungen Europas führten.
Sekundiert wurde das planmäßige Ruinieren der Schule mittels Hatz ihrer Leitung von einer – mit Ausnahme der Berliner Zeitung – nicht unbedingt sachkompetenten Medienberichterstattung, die sich nicht immer denunziatorischer Tricks enthielt. Wenn die bereits erwähnte Abendschau wieder einmal zähneknirschend über eine richterliche Entscheidung zugunsten von Stabel oder Seyffert berichtete, geschah das gerne mit dem Hinweis, dass eine „Expertenkommission […] zuvor eine ‚Kultur der Angst‘ an der Schule festgestellt“ habe (Sendung vom 28. Oktober 2020). Gisela Sonnenburg, Betreiberin des Blogs Ballett-Journal, zog im Mai 2020 die Ost-Karte: „Moderne Tanzpädagogik kann man nicht mit dem Drill der DDR gleichsetzen, so erfolgreich dieser auch war.“ Auch für den Erfolg des Widerstandes von Stabel und Seyffert gegen ihre Demontage hat sie – zumindest an die Adresse Ralf Stabels – eine Erklärung. „Wer hinreichend der Macht hineingekrochen war, ist absolut unkaputtbar“, so Sonnenburg im Mai 2021. Eine kleine Denunziation schiebt sie anlässlich der Erwähnung von Ralf Stabels Buch „IM Tänzer“ (2008) noch nach. Das Buch heize „die Gerüchteküche bezüglich seiner eigenen Person“ mit an. Wenn alles nichts hilft, warum nicht die IM-Karte ziehen …
Geradezu rührend nimmt sich da der Verweis der F.A.Z.-Tanzberichterin Wiebke Hüster auf den Spazierstock der Ballettmeister früher Zeiten aus. Diese hätten den nicht nur benutzt, um den „Takt zu klopfen, sondern um Tanzschüler durch leichte Berührung auf Fehler aufmerksam zu machen, etwa an der Hüfte, ohne sie mit den Händen berühren zu müssen.“ Aha, mit einem Spazierstock in der Hand habe ich Seyffert tatsächlich noch nie gesehen … Sonnenburg hingegen empfiehlt in junge Welt gegen den „kapitalistischen Leistungswahn“ – bei Hüster heißt der „Gnadenlosigkeit“ – mehr „Posie statt Technik“. Zum Beispiel mehr „kurzbeinige Tänzer mit gedrungenen Hüften“ und „zierliche, extrem kleine, feminine Damen“. Das ist ernst gemeint!
In der Schlusssequenz von Miloš Formans Film „Amadeus“ (1984) obsiegt Salieri über das Genie Mozart, das er zur Strecke gebracht hat: „Ich spreche für alle Mittelmäßigen auf der Welt. Ich bin deren Triumphator.“ Das ist es. Das, und nichts anderes hat nach dem bewussten Herunterwirtschaften des Berliner Tanzes durch eine hilflos-ignorante Kulturpolitik auch die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik erleben müssen. Der Ruf der Schule ist ruiniert. Die Neuanmeldungen für das neue Schuljahr sind dramatisch zurückgegangen. Lediglich sechs Ballett- und sieben Artistikschüler haben sich neu angemeldet. Interimsschulleiter Dietrich Kruse schob das laut Tagesspiegel der Pandemie in die Schuhe.
Schlagwörter: Elitebildung, Gregor Seyffert, Mittelmaß, Ralf Stabel, Sandra Scheeres, Staatliche Ballettschule Berlin, Wolfgang Brauer