…,
In dem wunderschönen Land,
Ging ich auf und ging ich unter,
Allerlei am Weg ich fand …“,
So verste dereinst Heidedichter Hermann Löns. Der hat auch übelst Martialisches (wie sein kriegskitschiges Engeland-Lied – siehe dazu den Beitrag von Sarcasticus in dieser Ausgabe) abgesondert und zog als Kriegsfreiwilliger für den letzten deutschen Kaiser in das Erste Weltgemetzel; sein Schöpfer hat ihn dafür ein tragisches Schicksal an der Westfront erleiden lassen. Später holten die Nazis seine (vorgeblichen) Gebeine aus Feindesland heim ins Reich. Doch von all dem einmal abgesehen, mit seinem „wunderschönen Land“ hatte Löns nicht unrecht. Allerdings dürfte ein Urlaub, bei dem einem erst bei Ankunft in Eimke, Ortsteil Wichtenbeck, gewahr wird, dass man sein Quartier quasi in direkter Nachbarschaft zu einem Artillerie- und Panzerschießplatz genommen hat, von vornherein zumindest in die Kategorie Praeparatio: suboptimal fallen. Glück im Unglück: Während unseres Aufenthalts fand Ballerei praktisch keine statt. Und „Allerlei am Weg“ ist in der und um die Lüneburger Heide immer noch zu finden – zum Beispiel:
Lüneburg – Dem glücklichen Umstand, dass das Städtchen am Nordrand der Heide weder Rüstungsindustrie noch einen Eisenbahnknotenpunkt beherbergte und auch nicht (wie etwa das brandenburgische Oranienburg) auf einer Route lag, auf der sich heimkehrende anglo-amerikanische Bomberverbände regelmäßig ihrer tödlichen Restlast entledigten, hat es Lüneburg zu verdanken, dass es heute über eine der am besten erhaltenen und pittoreskesten mittelalterlichen Innenstädte Deutschlands verfügt. Dazu beigetragen hat allerdings auch der Sachverhalt, dass die frühe Hansestadt* bereits im 14. Jahrhundert eine Monopolstellung als Salzlieferant im norddeutschen Raum innehatte. Salz wurde zur Haltbarmachung der in Nord- und Ostsee gefangenen Heringe benötigt, um sie auch im Binnenland vermarkten zu können. Der Salzhandel machte Lüneburger Bürger steinreich. Mit diesem Attribut wurden damals Zeitgenossen belegt, die es sich leisten konnten, ihr Domizil statt nur aus Holz aus Stein zu errichten, einem Material, das dem Zahn der Zeit bekanntlich deutlich besser widersteht. So sind im Stadtbild zahlreiche mehrgeschossige Giebelhäuser aus jener Zeit mit ihren für Handelsstädte typischen Speicherräumen unter den hohen Spitzdächern und dem knapp unter dem Dachfirst herausragenden Aufzugsbalken erhalten. Als wuchtiger Backsteinbau strebt die Kirche Sankt Michaelis, erbaut ab 1407 und später Johann Sebastian Bach als Chorknaben beherbergend, gen Himmel. Ein höchst imposantes Baudenkmal ist auch das ab 1230 errichtete historische Rathaus, das größte seiner Epoche in ganz Norddeutschland. Das Flüsschen Ilmenau schließlich verleiht Lüneburg stellenweise nachgerade französischen Charme – vergleichbar etwa dem Viertel Petit Venice im elsässischen Colmar oder der historischen Altstadt von Strasbourg. Charme hat Lüneburg auch in anderer Hinsicht: Oberhalb öffentlicher Abfallbehälter sind mancherorts Dreifachhalterungen für entleerte Pfandflaschen angebracht. Was denen, die ihr kärgliches Einkommen mit dem Sammeln solcher Flaschen aufbessern, das Wühlen in meist unappetitlichen Abfällen erspart.
Schiffshebewerk Scharnebeck – Wenige Kilometer nordöstlich von Lüneburg und als Teil des 115 Kilometer langen Elbe-Seitenkanals überwindet die zu ihrer Bauzeit Anfang der 1970er Jahre weltweit größte Schiffsbadewanne 38 Höhenmeter. Die korrekte Bezeichnung lautet Doppel-Senkrecht-Schiffshebewerk. Eine Aussichtsmöglichkeit befindet sich auf halber Höhe zwischen der unteren und der oberen Ein-, respektive Ausfahrt. Ein beeindruckendes Schauspiel, die Fahrstuhlfahrten der Schiffe hautnah zu beobachten! Und noch dazu, was die Anlage anbetrifft, völlig lautlos. Wenn allerdings der Wind kräftig pfeift …
Otter-Zentrum Hankensbüttel – Dieses einzigartige, in üppig grüner Umgebung befindliche Naturerlebniszentrum versammelt in Gehegen, die deren natürlichem Lebensraum nachempfunden sind, fast sämtliche einheimischen Raubtierarten, die zur Familie der Marder gehören: Dachs, Otter, Iltis (sowie dessen domestizierte Form, Frettchen), Nerz, Wiesel und natürlich Echter Marder in Gestalt von Stein- und Baummarder. Interessante Führungen in Verbindung mit Fütterungen sorgen dafür, dass man auch die nachtaktiven Vertreter dieser Spezies ausgiebig zu Gesicht bekommt. Das einzige Familienmitglied, das in Hankenbüttel fehlt, ist das Mauswiesel. Es macht durch seine Winzigkeit seinem Namen alle Ehre und passt durch jedes daumengroße Loch, was eine artgerechte Haltung praktisch verunmöglicht.
Ellerndorfer Wachholderheide – Dieses nur rund 60 Hektar umfassende Fleckchen Erde war das einzige heidetypische Habitat mit durchgängigem Erikateppich und nur vereinzelten Gehölzen in der Nähe unseres Quartiers. Zu Fuß in einer knappen Stunde umwanderbar. Und überraschenderweise als Betriebsgelände der Rüstungsschmiede Rheinmetall ausgewiesen, die sich auf einer Infotafel ob ihres naturschützerischen Flächenmanagements selbst beweihräuchert. Für den direkt angrenzenden, ebenfalls zu Rheinmetall gehörenden Wald gilt allerdings: Betreten verboten! Sprengstoff. Was durchaus passt, denn bekanntlich verdient das Unternehmen sein Geld nicht zuletzt mit Munitionslieferungen für die Kriegsgebiete dieser Welt. Wie unser leider viel zu früh verstorbener Freund und Kollege Otfried Nassauer ein ums andere Mal aufgedeckt hat (nachzulesen hier und nachzuhören hier).
Truppenübungsplatz Munster-Nord – Das mit 102 Quadratkilometern nicht eben kleine Manövergelände ist dem Tourismus natürlich nicht zugänglich. Aber wenn man sich mit dem Auto in dessen unmittelbare Nähe begibt, fällt einem rasch ins Auge, dass praktisch auf jedem Waldweg, der von der Straße abzweigt, ein nicht zu kleiner Campinghänger dauergeparkt ist. Morgens – leer, wie durch die aufgezogenen Fenstervorhänge unschwer zu erkennen ist. Zu vorgerückter nachmittäglicher Stunde jedoch signalisieren rote Leuchten – was auch immer. Und wenn man dann vom knapp 13-jährigen, von der Pubertät noch nicht zu sehr gebeutelten Enkel nach dem Sinn des Ganzen befragt wird, kommt man rasch in Erklärungsnöte …
Weltvogelpark Walsrode – Auf 650 Arten mit über 4000 Tieren – von allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis, was Weltspitze ist – summiert sich die Einwohnerschaft dieses Parks, von Kolibris und anderen Winzlingen bis zum fernöstlichen Riesenseeadler und zum „König der Lüfte“, dem Andenkondor, der sich in Höhen bis 7000 Meter emporschrauben kann. Der Park, er besteht seit nunmehr 60 Jahren, ist in Ferien offenbar ein ganz besonderer Besuchermagnet, denn wir durften uns am Ende einer gut 100 Meter langen Schlange einreihen. Trotzdem kein ermüdendes Warten – nach nicht einmal 20 Minuten waren wir drin. Außerordentlich vielfältige, ja geradezu liebevoll gestaltete Volieren gestatten kleinen und mittelgroßen Tieren jederzeit, blickgeschützte Bereiche aufzusuchen. Eine Freiflugschau am Nachmittag, wenn es das Wetter zulässt, und frei begehbare Häuser einmal mit tropischer Fauna und Flora, einmal mit exotischen Schmetterlingen sind besondere Höhepunkte. Nicht zu vergessen ein Schaufenster, durch das die Handfütterung allerjüngster Parkbewohner verfolgt werden kann. Vermisst haben wir allerdings eine Strecke mit seltenen einheimischen Vogelarten, denn wer bekommt heutzutage schon einen Wiedehopf oder einen Kampfläufer zu Gesicht. Auch macht man sich bei Zoobesuchen nicht unbedingt Gedanken über artgerechte Haltung, nicht zuletzt, weil das entsprechende Sachwissen in der Regel fehlt. Wenn man allerdings am Abend zuvor im Urlaubsquartier zufällig einen Film über den Kaninchenkauz gesehen hat, einen Bodenbewohner in den westlichen Grassteppen Nord- und Südamerikas, der in Bodenhöhlen lebt, die er sowohl von Säugetieren übernimmt als auch selbst gräbt, und man dann in Walsrode ein Pärchen dieser Tiere ungeschützt unter der Decke ihrer Voliere sitzen sieht, kommt einem schon die Frage, ob sich Zootiere in ihren Käfigen überhaupt uneingeschränkt wohlfühlen können. Da dürfte es den zahlreichen Storchenpaaren, die sich den Bestand an hohen, ausladenden Bäumen des Parks zum Nistplatz auserkoren haben, schon besser gehen.
Kloster Ebstorf – Um 1160 gegründet und bereits seit 1529 eines der seltenen evangelischen Klöster, in diesem Falle für Frauen, ist es nach wie vor in Funktion, zeigt Besuchern seit Ausbruch von Corona allerdings die kalte Schulter: aus Pandemiegründen keine Führungen und somit kein Zugang zu den trutzigen Backsteingebäuden samt Kirche. Also auch kein Blick auf die Nachbildung jener in diesen Mauern im 13. Jahrhundert gefertigten, mit 13 Quadratmetern größten mittelalterlichen Weltkarte – die Erde als Scheibe mit Jerusalem im Zentrum und natürlich ohne die damals in Europa noch unbekannten Weltgegenden, ob sie nun Australien oder Amerika heißen. (Das Original der Karte verbrannte 1943 bei einem Bombenangriff.) – Auf dem First des Kirchenschiffes putzte sich, als wir das Kloster umrundeten, ein Weißstorch sein Gefieder, und das ganz in der Nähe gelegene Café mit seinen Köstlichkeiten ließ uns dem Besuche Ebstorfs doch noch etwas abgewinnen.
Hundertwasser-Bahnhof Uelzen – „La ligne droite conduit à la perte de l’humanité.“ (Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit.) So beschrieb Friedensreich Hundertwasser den Dreh- und Angelpunkt seines künstlerischen Katechismus im Vorwort des Katalogs zu seiner ersten Ausstellung in Paris. Die fand 1954 statt. Und so erkennt man außer an ihrer sanguinischen Farbigkeit seine architektonischen Schöpfungen nicht zuletzt daran, dass ihre Linienführungen, wo immer möglich, vielgestaltig sind. Bloß nicht gerade und bloß nicht mit rechten Winkeln. Das muss den Handwerkern, die das Hundertwasser-Modell für den historischen Stadtbahnhof von Uelzen ausführten, offensichtlich so gegen die berufliche Ehre gegangen sein, dass sie die Fahrstuhlhäuser auf den Bahnsteigen im Bereich von deren Bedachungen einfach rechtwinklig und die Dächer selbst plan anlegten. Völlig unakzeptabel! Daher mussten Hundertwasser-Abschlüsse oben an- und draufgestückelt werden. Was nicht groß auffällt, doch was gut zu erkennen ist, wenn man vom Bahnhofsguide Stacy Macaulay, einem zum Uelzener gewordenen Kanadier, darauf aufmerksam gemacht wird. Sich ganz kurzfristig mit dem sympathischen, sehr kundigen jungen Mann für einen Besuch des Bahnhofs verabredet zu haben, erwies sich als ausgesprochen gelungen. Das vietnamesische Restaurant im innerstädtischen Hotel Hamburg hingegen kann guten Gewissens nur Essern empfohlen werden, denen „asiatisch für Touristen“ genügt.
Arboretum Melzingen – Einen Botanischen Garten, aber nur mit Bäumen, so erläuterten wir dem Enkel, was von einem Arboretum zu erwarten ist. Als Christa von Winning, gebürtig auf Gut Sauen nahe dem brandenburgischen Beeskow, 2012 hundertjährig starb, hatte sie 1945 bei der Flucht vor der herannahenden Roten Armee im Rucksack nicht nur ein Kirschapfelbäumchen aus ihrer brandenburgischen Heimat mitgenommen, sondern auch rund 70 Gartenreisen in alle Welt absolviert, auf denen sie sich mit Samen versorgte, um ein opulentes Arboretum heranzuziehen, in dem heute neben Einheimischem Amerikanisches, Japanisches und Koreanisches ebenso wächst wie anderes aus anderen Weltteilen. Alles dicht bei dicht – in heißen Sommern eine schattige, kühlende Oase – und sachkundig beschriftet. Der 1960 gepflanzte Mammutbaum misst inzwischen 17 Meter, und sein Stammumfang an der Basis stellt den altersgleicher einheimischer Bäume längst in den Schatten. Ein kleines Garten-Café setzt den Punkt aufs I.
Bad Bevensen – „Verstaubter Kurort?“, fragt unser Marco-Polo-Reiseführer rhetorisch, um selbst antworten zu können: „War gestern. Im Ort und in der Therme von Bad Bevensen (6400 Ew.) werden tatsächlich nicht nur ältere Kurgäste, sondern auch Kinder und junge Leute gesichtet.“ Tatsächlich können wir das für die Therme – trotz Sommerferien – nicht so ganz bestätigen. Doch der Ort präsentiert sich in schmuckem Outfit, in der nahe dem Kurpark fließenden Ilmenau kann auf kneippsche Art Wasser getreten werden, nur der Gang zum früheren Klosterhof und heutigen Gestüt – zwischen Bad Bevensen und Medingen gelegen – lohnt nicht: Privatbesitz! Betreten nur nach Anmeldung gestattet!
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Eine Woche Lüneburger Heide verging wie im Fluge. Und zum Abschluss – noch etwas Heidekitsch von Hermann Löns?
Brüder, lasst die Gläser klingen,
Denn der Muskateller Wein
Wird vom langen Stehen sauer,
Ausgetrunken muss er sein.
Valleri, vallera und juchheirassa und juchheirassa,
Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt, du weißt es ja.
* – Die erste Teilnahme an einem Hansetag, einer Versammlung von Hansestädten, wie sie seit 1356 regelmäßig stattfanden, ist für 1363 belegt.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Arboretum, Hankensbüttel, Hermann Löns, Hundertwasser, Kloster, Lüneburger Heide, Münster, Rheinmetall, Schiffshebewerk, Uelzen, Walsrode