Weder in Wien bei „Hawelka“, dem Intellektuellen-Café, Dorotheergasse 6, oder im „Central“, Herrengasse 14, wo der Schriftsteller Peter Altenberg im Eingangsbereich so täuschend ähnlich und einladend sitzt, als wäre er es höchst selbst (beinahe hätte ich ihn achtungsvoll gegrüßt), noch im „Café Mozart“, Albertinaplatz 2, wollte ich meinen Cappuccino trinken. Mitnichten. In Wernigerode. Im „Café Wien“, Breite Straße 4.
Zwar konnten die Vorgenannten auf honorige Gäste verweisen, die dort diskutierten, stritten, Journale lasen und Weltpolitik betrieben; möglich war es, Stefan Zweig zu begegnen, Sigmund Freud und Friedensreich Hundertwasser und Friederike Mayröcker. Doch keines der bekannten Wiener Kaffeehäuser – bei all ihrer gewahrten Nostalgie und dem Luxus – kann es mit dem Fachwerkhaus aus dem Jahr 1583 und seiner Renaissance-Fassade an Originalität und schmückender Architektur aufnehmen. Das Gebäude zählt zu den ältesten der Stadt, steht unter Denkmalschutz und hat durch die Jahrhunderte hindurch allen Fährnissen standgehalten, Umbauten nicht ausgeschlossen.
Einstmals als Wohn- und Geschäftshaus für wechselnde Besitzer und Kleingewerbetreibende errichtet, zeigt es, neben dem kunstvollen Fachwerk, reiche Zierde seiner Straßenfront. Palmetten, Wappen, Schiffskehlen (besondere Verzierungen an Fachwerkbauten des 16. Jahrhunderts, die an einen nach oben gekehrten Schiffskiel erinnern). – Die zwei Geschosswerke erhielten um 1610 einen Giebel aufgesetzt, der wie ein neugieriger Hauspatron das Straßenleben beobachtet. Man verhält den Schritt und bewundert. Und tritt ein.
Es empfängt ein verführerischer Duft nach frischgemahlenem Kaffee und Vanille, nach Rum und Orangen. Dem widerstehe, wer da kann. Im Jahr 1897 bezog der Bäcker- und Konditormeister Wilhelm Hauer das stolze Haus, eröffnete ein Café und verhalf ihm bald zu gutem Ruf. Das „Café Hauer“ empfahl sich durch köstliche Spezialitäten und wurde in der zweiten Generation weitergeführt. Der Grundstein für ein renommiertes Kaffeehaus war gelegt. – Die Tradition mitsamt dem bewährten Ruf übernahm 1936 der Konditormeister Hans Siegemund. Er leitete die beliebte Einkehr bis zum Jahr 1951. Danach erfolgte die Verstaatlichung unter dem vielversprechenden Namen „Café Wien“. 1990 erhielt die Familie Siegemund ihren Besitz zurück. Seither werden das Wienerische, Heimische und Spezialitäten anderer Länder qualitätvoll gepflegt und angeboten. Es ist nun seit über hundert Jahren ein Haus meisterlicher Konditorenkunst und des guten Geschmacks. – Gewiss, Stefan Zweig und Sigmund Freud kehrten hier nicht ein. Doch der Journalist und Schriftsteller Hermann Löns und Ernst Barlach, der bei Siegemunds am 02. Januar 1938 seinen 68. Geburtstag, den letzten, beging.
Dezent in Weiß gehalten, im Wechsel mit gedämpften Farben, kleine Marmortische und eine weiße Rose darauf, Wiener Kaffeehausstühle mit den geschwungenen Lehnen, leise Walzermusik (der Frühlingsstimmenwalzer?), Jean-Étienne Liotards Schokoladenmädchen und eine geschwätzige, herausgeputzte Damenrunde. Intime, stilvolle Sonntagnachmittagskaffehausstunde.
Das Kuchen- und Torten-Büfett – Wunderwerk und Augenschmaus. Das Angebot wechselt, erfahre ich, auch neue Kreationen kommen hinzu. Der ältere Herr neben mir stöhnt genüsslich und bestellt: „Einmal Wiener-, einmal Trüffelsahne-, einmal Schwarzwälder Kirschtorte.“ „Sie sind mutig“, erlaube ich mir zu sagen. „Ich bin ein Genießer“, erwidert er. Man sieht es ihm an. Mir bleibt die schwierige Wahl zwischen Mozarttorte, Baumkuchenweincreme-, Baiser- und Käsesahnetorte; und Obsttorten (verschiedene Sorten) … und nehme dann die Sachertorte, dem süßen Ort und der schönen Stadt an der Donau zu Ehren.
Um die Stimmung nicht zu stören, verzichte ich auf den Cappuccino, wähle dafür die Wiener „Melange“ und lese in Stefan Zweigs „Sommernovellette“.
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