Merab Ninidze – derzeit kann man den georgischen Schauspieler in der ZDF-Mediathek mit der Serie „Dr. Ballouz“ aufrufen, die sich vom üblichen televisionären Einerlei nicht nur durch ungewöhnliche äußerliche Parameter unterscheidet: Ninidze gibt einen in der Uckermark verankerten, grundsympathischen Chefarzt mit Migrationshintergrund, der die Weiten der dünn besiedelten Landschaft selbst in unseren Tagen noch mit blauem Trabbi durchmisst. Das Ganze basiert zudem auf einer realen Geschichte. Familienkompatibel, gut geeignet für verregnete Sommertage.
Erstmals Bekanntschaft machen mit dem Georgier konnte deutsches Publikum in dem Spielfilm „Die Reue“, jenem legendären Streifen von Tengis Abuladse von 1984, einer bitterst-satirischen Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, die dank Anbruch der Gorbatschow-Ära Wirkung in der Sowjetunion entfalten konnte. Der Film lief 1987 im ZDF, konnte also zu einer Zeit, als die DDR-Führung bereits auf Distanz zu Glasnost und Perestroika ging, in einem großen Teil der DDR ebenfalls empfangen werden. Neues Deutschland reagierte mit einem Totalverriss aus der Feder von Harald Wessel: „[…] ein für uns unannehmbares Credo, in dem purer Pessimismus in ethischen Nihilismus, in die Verneinung aller ethischen Normen und sittlichen Errungenschaften hinüber gleitet, so dass der zynische Selbstverdruss als letzte Weisheit übrigbleibt“. In diesen Duktus stimmte auch die Junge Welt ein, noch vor dem ND die damals mit 1,6 Millionen Exemplaren auflagenstärkste Tageszeitung der DDR. Das war eine von jenen kulturpolitischen Episoden, die wie Katalysatoren auf den sich bereits verstärkenden Verdruss eines nicht unerheblichen Teils selbst der DDR-affinen DDR-Intelligenz bezüglich der eigenen Obrigkeit und der Defizite des realsozialistischen Systems wirkten.
Dass ein aktueller Kinofilm, nämlich „Der Spion“, von dem ab hier die Rede ist, so viel historisierenden Rückblick auszulösen vermag, ist wohl eher nicht die Regel. Kommt aber vor.
Im jetzigen Film agiert Ninidze neben dem oscarnominierten Weltstar Benedict Cumberbatch, und zwar schauspielerisch absolut auf Augenhöhe. Der Georgier ist Oleg Penkowski, Oberst im sowjetischen Militärgeheimdienst GRU, der sich 1960 dem Westen in Gestalt des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 und der US-Krake CIA andiente und später im Vorab den Bau der Berliner Mauer (1961) ebenso verraten haben soll wie die heimliche Verlegung sowjetischer Atomraketen nach Kuba (1962).
Cumberbatch ist Greville Wynne, britischer Geschäftsmann mit Wirtschaftskontakten in den Ostblock, der von MI6 und CIA zum Kontaktmann für Penkowski auserkoren wird. Was der britische Theaterregisseur Dominic Cooke, 55 Lenze zählend, in seinem überhaupt erst zweiten Kinofilm aus dieser Konstellation gemacht hat, ist spannendes Kino, soweit man dem Genre des Spionage-Thrillers Unterhaltungswert abzugewinnen vermag. Wer hinterher allerdings vermeinte, nun zu wissen, wie es wirklich war, der wäre zum Gutteil fake news, wie man’s heute nennt, aufgesessen. Denn dass der Film im Vorspann „beruht auf wahren Begebenheiten“ behauptet, erweist sich nach Tisch doch weitgehend als Marketinggag.
Das beginnt damit, dass Penkowski der altruistische Retter der Menschheit vor einem Atomkrieg wahrscheinlich eher nicht gewesen sein dürfte, als der er im Film durchweg dargestellt wird, weil der dem Sowjetchef Chruschtschow – unberechenbar der Mann, so einer dürfe nicht Atomwaffen kommandieren, so der Film-Penkowski – in die Parade fährt. Das Motiv des Verräters war womöglich ein viel profaneres: Rache wegen beruflicher Zurücksetzung. Penkowski sollte 1960 Militärattaché in Indien werden, als Unstimmigkeiten in der Vita seines Vaters zutage traten. Woraufhin er, in der Sowjetunion damals nicht unüblich, aus dem aktiven GRU-Dienst in die Reserve versetzt und auf einen Zivilposten ohne militärischen Rang abgeschoben wurde.
Und die Distanz des Films zum tatsächlichen historischen Geschehen endet auch nicht damit, dass Wynne – dem die Sowjets den Prozess machten und den sie zu achteinhalbjähriger Haft verurteilten, der jedoch nach 17 Monaten ausgetauscht wurde – nicht während eines Aufenthaltes in Moskau verhaftet, sondern vom sowjetischen Geheimdienst KGB in Budapest gekidnappt und in die UdSSR entführt worden war.
Allerdings findet zumindest beiläufig der korrekte Zusammenhang von Ursache und Wirkung der Kuba-Krise von 1962 Erwähnung, die die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachte: Dass nämlich Chruschtschow sowjetische Nuklearraketen nicht als quasi psychopatischer Staatslenker in Kuba aufstellen ließ, sondern weil die USA der Sowjetunion ihrerseits bereits einige Zeit zuvor eine vergleichbare Bedrohung quasi in den Vorgarten gepflanzt hatten – durch Stationierung solcher Waffensysteme in der Türkei. Die bis heute anzutreffende westliche Verkürzung, dass Chruschtschow der Verantwortliche für den fast Weltbrand gewesen sei, hat schon immer kaschieren sollen, dass der Advocatus Diaboli in diesem Falle in Washington saß.
Als Wynne noch in den 1960er Jahren seine Memoiren veröffentlichte („Der Mann aus Moskau“), war es ein anderer britischer Geheimdienstexperte, der an dessen Darstellungen der Penkowski-Affäre und seiner eigenen Rolle darin erhebliche Zweifel anmeldete – John le Carré: „Warum Spione nicht die besten Autobiographien schreiben, hat naheliegende Gründe.“ Der Spion sei „ein Mann, dem man stets einschärft, nie freiwillig Informationen zu liefern, nie unnötigen Gebrauch von seinen Kommunikationsmitteln zu machen, immer seine Spuren zu verwischen, die Wahrheit immer als seinen natürlichen Feind zu betrachten und immer den Geschmack und die Haltung einer völlig langweiligen Person anzunehmen, falls er nicht schon derart langweilig sein sollte […].“ Es ist höchst vergnüglich, le Carrés Darstellung nach Ansehen von „Der Spion“ einfach mal aufzurufen …
„Der Spion“, Regie: Dominic Cooke. Derzeit in den Kinos.
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Bekanntlich nicht tot zu kriegen ist auch hierzulande der Mythos von den USA als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Jeder kann es schaffen – vom Tellerwäscher zum Millionär. Beispiele wie Bill Gates und Jeff Bezos waren jedoch stets Einzelfälle und ließen sich noch nie beliebig klonen. Sehr viel schneller, sehr viel häufiger und nicht selten unwiderruflich kann man in den USA stattdessen schon seit langem im Heer derer am unteren Rand der sozialen Stufenleiter landen – etwa bei den wohnsitzlosen Arbeitsnomaden, die mit ihrem rollenden „Eigenheim“ (vom zum Bewohnen an sich völlig ungeeigneten Kleintransporter bis zum als Dauerwohnsitz ebenfalls nicht gerade traumhaften Caravan) ständig quer durchs Land immer dorthin ziehen, wo saisonal erhöhter Bedarf an Werktätigen besteht: vor Weihnachten in Versandzentren von Amazon, während der Sommermonate in Freizeitparks, im Herbst bei der Zuckerrübenernte. Am Leben dieser Wanderarbeiter als Außenseiter der Gesellschaft, in ständig wechselnden, stets prekären Einkommensverhältnissen hat sich in den USA seit John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“, erschienen 1939, offenbar nichts Grundsätzliches geändert. So jedenfalls der Eindruck, den „Nomadland“ – mit der einmal mehr überaus beeindruckenden Frances McDormand in der Hauptrolle – hinterlässt. Ihr als Produzentin, die die Rechte an dem Stoff für die Verfilmung erwarb, ist der Streifen nicht zuletzt insgesamt maßgeblich zu verdanken.
Für die in China gebürtige Regisseurin Chloé Zhao war es zwar erst ihr dritter Spielfilm, doch damit avancierte sie – nach Kathryn Bigelow für „The Hurt Locker“, 2010 – bereits zur immerhin schon zweiten Preisträgerin in der Hauptkategorie Beste Regie bei der ja erst 93. Verleihung der amerikanischen Academy Awards of Merit (Oscars). Für McDormand als Hauptdarstellerin allerdings, und dies nicht minder völlig zu Recht, war es bereits der dritte vergoldete Metallknirps (Metallwert circa 275,00 US-Dollar) – nach denen für „Fargo“ (1997) und für „Three Billboards outside Ebbing, Missouri“ (2018). Überdies gewann „Nomadland“ den Oscar 2021 ebenfalls in der Kategorie Bester Film.
Bisweilen werden die Academy Awards eben auch für eher stille Filmkunst vergeben. In solchen Momenten sind die USA dann vielleicht doch so etwas wie ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten …
„Nomadland“, Regie (und Drehbuch): Chloé Zhao. Derzeit in den Kinos.
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Dass humanoide, also dem Menschen bis ins letzte Detail nachgebildete Roboter keineswegs segensreich sein müssen, sondern eher ins Horrorgenre fallen, wissen US-Leser bereits seit 1951, als im Rahmen des Erzählungsbandes „Der illustrierte Mann“ von Ray Bradbury auch seine Vision „Marionetten e.V.“ erschien. Und Kinogängern sind die möglichen Abgründe, die sich mit derartigen Klonen auftun, ebenfalls spätestens seit der ersten Verfilmung von Ira Levins „Die Frauen von Stepford“ aus dem Jahre 1975 vertraut. Nun hat sich also Maria Schrader des Themas angenommen, und herausgekommen ist eine melancholische Filmkomödie mit einem Touch von philosophischer Tiefe, dafür jedoch ohne jeglichen Horror oder auch nur Thrill. Genau das Richtige für einen lauen Sommerabend, gut zu genießen bei einem Glas gekühlten, trockenen Weißweins und vor allem wegen des einmal mehr höchst trefflichen Mimens von Maren Eggert in der durch und durch menschlichen weiblichen Hauptrolle. Der Silberne Bär dafür bei der diesjährigen Berlinale wurde zu Recht vergeben.
„Ich bin dein Mensch“, Regie und Drehbuch (Mitautorin): Maria Schrader. Derzeit in den Kinos.
Schlagwörter: Chloé Zhao, Clemens Fischer, Film ab, Frances McDormand, Maren Eggert, Maria Schrader, Merab Ninidze, Nomadland, Penkowski, Roboter, Spion