24. Jahrgang | Nummer 15 | 19. Juli 2021

Der Mann auf dem Balkon

von Frank-Rainer Schurich

Angststörungen gibt es bekanntlich zuhauf. Domatophobie ist eine davon – die krankhafte Furcht, in einem Haus zu sein. Auch die Angst vor dem eigenen Heim? „Zu Recht!“, heißt es in dem faszinierenden Büchlein „Dinge, vor denen es sich wirklich lohnt Angst zu haben“. Das eigene Heim sei der mit Abstand gefährlichste Ort, der jährlich Abermillionen Unfallopfer und Todesfälle fordert. „Nehmen Sie sich in Acht!“

Das trifft in besonderer Weise für Wohnungen zu, die einen Balkon haben, also einen vom Wohnungsinnern betretbaren offenen Vorbau, der aus dem Stockwerk eines Gebäudes herausragt. So die allgemeine Definition. Neben seiner Gefährlichkeit hat der Balkon aber seine eigene Magie, weshalb wir umgangssprachlich sagen, dass wir Urlaub auf „Balkonien“ machen.

In Kunst und Literatur spielt der Balkon seit seiner Erfindung eine herausragende Rolle. Der französische Erzähler, Dramatiker und Lyriker Jean Genet (1910–1986) nannte sein Schauspiel aus dem Jahr 1956 Der Balkon. Hier ist aber nicht zuerst der (wohl dominant wirkende) Balkon am Haus gemeint, sondern der „Große Balkon“, ein Freudenhaus, in dem die bessere Gesellschaft ein und aus geht. Und natürlich wird jemand auf dem Balkon erschossen.

Der Balkon ist aus kriminalistischer Sicht vor allem ein Beobachtungspunkt. Man sieht und kann gesehen werden. Aber im Roman „Der Mann auf dem Balkon“ der schwedischen Autoren Maj Sjöwall und Per Wahlöö, erschienen 1967, kam der Balkonbesitzer gar nicht auf den Gedanken, dass er beobachtet werden könnte. Was ihm zum Verhängnis wurde … Doch dazu später.

Die Kriminal- und Unfallgeschichte zeigt, dass der Balkon ein besonders gefährlicher Ort ist. Fangen wir einmal mit den Unfällen an.

Ein Balkon sollte nie übermäßig belastet werden. Im Juli 2019 schaffte in Stuttgart ein volles Planschbecken auf einem Balkon Abhilfe gegen Hitze, jedoch die Last war zu schwer: Der Balkon stürzte ein, sechs Menschen wurden leicht verletzt. Vermutlich durch das zu hohe Gewicht des Pools mit drei Metern Durchmesser und 70 Zentimetern Wasserhöhe sei der Holzbalkon im ersten Obergeschoss einseitig eingestürzt. Ergebnis: die Menschen rutschten vier Meter in die Tiefe.

Graham Greene hat in seiner Kurzgeschichte „Ein peinlicher Unfall“ über einen tragischen Fall berichtet. Ein Schwein mit Balkon fiel auf einen Mann, der auf der Straße ging. „Anscheinend halten die Leute in den ärmeren Vierteln von Neapel Schweine auf dem Balkon“, schreibt er. „Dieses eine befand sich im vierten Stock. Es war zu dick geworden. Der Balkon brach durch.“

Manchmal dient der Balkon als Versteck. Im September 2019 sollte ein 94-Jähriger in Haßfurt (Unterfranken) seinen Führerschein abgeben, aber er rückte ihn nicht heraus, als Beamte bei ihm klingelten und den Führerschein verlangten. Er beleidigte die Beamten, und bei einer Auseinandersetzung verletzte er sogar eine Polizistin mit einem Schlag aufs Auge. Auch eine angedrohte Fesselung habe ihn nicht beruhigt. Die Polizisten fanden schließlich den Führerschein auf dem Balkon unter Blumen versteckt.

Der Balkon wird zuweilen zur Falle, wenn man nicht aufpasst. Ein vier Jahre alter Junge hatte im August 2017 seine Mutter und deren Bekannte in ihrer Wohnung in Göppingen unbemerkt auf dem Balkon ausgesperrt. Nach der Tat sei das Kind seelenruhig ins Bett gegangen. Als die beiden Frauen an jenem Freitagabend feststellten, dass die Tür verschlossen war, schlief der kleine Junge bereits tief und fest. Was macht man in einem solchen Fall? Man ruft die Polizei. Nachdem die Beamten vergeblich an der Wohnungstür klingelten, musste die Feuerwehr das Türschloss gewaltsam aufbrechen, wovon der Junge schließlich wach wurde.

Ein viel dramatischeres Kapitel sind Stürze vom Balkon, die oft tödlich enden. In diesen Fällen ist immer zu ermitteln, ob es ein Unfall, ein Selbstmord oder ein Mord war. Bei schlechtem Wetter sind insbesondere Raucher sehr gefährdet, die auf dem Balkon ihr Laster frönen. Ein Mann starb im Dezember 2017 in Katalonien, als eine Windböe ihn im Badeort Segur de Calafell vom Balkon seines Hauses fegte.

Manchmal geht die Sache aber auch glimpflich aus. Ebenfalls im September 2017 hatte ein sehr heftiger Schneesturm eine Raucherin auf der Insel Sachalin im Fernen Osten Russlands vom Balkon geweht. Die 70-Jährige stürzte aus dem vierten Stock, landete aber weich in einem Schneehaufen. Weil Krankenwagen nicht durch den hohen Schnee kamen, nahm ein Radlader die Frau mit der Schaufel auf und fuhr sie zum Arzt.

Selbstmörder stürzen sich zuweilen vom Balkon, und in diesen Fällen ist immer zu untersuchen, ob eine fremde Hand im Spiel war. Ein besonders tragischer Suizidfall ereignete sich am 22. März 1985 in Berlin-Weißensee in der Kniprodeallee, bei dem es aber keinen Balkonsturz gab. Eine Rentnerin, 73 Jahre alt, hatte sich aus Einsamkeit auf dem Balkon zum Hof den Kopf weggeschossen – mit der Jagdwaffe ihres Ende 1976 verstorbenen Mannes. Die Bereitschaftsärztin, die den Tod offiziell feststellen sollte, musste durch die Kriminalisten erst einmal durch Kaffee „wiederbelebt“ werden, denn so etwas Entsetzliches war ihr noch nie untergekommen.

Werner Gladow, der Medizin studieren wollte und sich deshalb „Doktorchen“ nannte, hatte in den Nachkriegsjahren mit seiner Bande in Berlin 127 Verbrechen begangen, darunter zwei Morde, 15 Mordversuche, 19 Raubüberfälle und zehn schwere Diebstähle. Seine Festnahme war eine filmreife Aktion – mit einem Balkon in der Hauptrolle.

Am 3. Juni 1949 rückte die Polizei zur Schreinerstraße 52 im Stadtbezirk Friedrichshain an, unweit der Frankfurter Allee. Mehr als zweitausend Leute sollen sich auf der Straße versammelt und dem bunten Treiben zugeschaut haben. Die Neue Berliner Illustrierte, Heft 27/1949, beschreibt die Festnahme außerordentlich plastisch: „Die Volkspolizei fasst zu. Während ‚Bandenmutter Lucie‘ ihrem Sohne die Ziele anweist, kämpft ‚Doktorchen‘ Gladow vom Balkon seiner Wohnung Schreinerstraße 52 mit drei Pistolen gegen das Überfallkommando. Zwei Kriminalisten hat er bereits schwer verletzt. Mit Mühe werden sie geborgen. Nach einstündigem Gefecht trifft den Gangster schließlich vom Nachbarfenster aus ein Schuss in den Hals, der ihn zum Aufgeben zwingt, ohne dass es ihm gelungen ist, sich bis zur Ruinentür durchzukämpfen, die ihm vier Fluchtwege ermöglicht. Die gefährlichste Bande Berlins ist damit erledigt.“

Maj Sjöwall und Per Wahlöö haben in ihrem bereits erwähnten Kriminalroman, der auch verfilmt wurde, einen anderen Akzent gesetzt. Ein neunjähriges Mädchen wird in einem Stockholmer Park tot aufgefunden – missbraucht und erwürgt. Kurz darauf wird ein weiteres Kind auf ähnliche Weise Opfer eines Sexualverbrechers.

Gleich zu Anfang der Fahndung hat der Kriminalist Gunvald Larsson mit einer älteren Dame telefoniert, die sich über einen Mann in einer gegenüberliegenden Wohnung beschwerte, der den ganzen Tag und sogar nachts auf seinem Balkon stehe, auf die Straße schaue und Leute beobachte, unter anderem Kinder. Die Dame wird abgewimmelt, denn so etwas ist ja nicht verboten. Nach Beendigung des Gesprächs zischt Larsson genervt ins Telefon: „Lass dich begraben, alte Schraube.“

Ein verhängnisvoller Fehler! Kommissar Martin Beck erinnert sich später an diese Anruferin. So wird der Mörder ermittelt, bevor er erneut ein Kind töten kann. Es ist eben dieser Mann auf dem Balkon.