24. Jahrgang | Nummer 14 | 5. Juli 2021

Man lebt von einem Brief zum andern

von Wladislaw Hedeler

Thomas Flierl hat mit der umfangreichen, von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand geförderten und von der Universität für angewandte Kunst Wien unterstützten Edition des Briefwechsels zwischen Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte einen gewichtigen Beitrag zur Erforschung des deutschen Exils in der UdSSR, Österreich und der Türkei vorgelegt. Es handelt sich – wie bei dem von Orlando Figes 2012 herausgegebenen Band „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ – um „eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors“. Anna Achmatowas in Verse gekleidete Bitte bringt die Isolation der politischen Häftlinge auf den Punkt. Briefe, hebt der Historiker Meinhard Stark hervor, „wurden zur einzigen Lebensader zwischen den Gefangenen und ihren nächsten Angehörigen.“ 2015 veröffentlichte Andrej Reder eine Auswahl der Briefe, die sich seine Eltern, Gabo Lewin, Häftling in Magadan, und Hertha Lewin-Reder, Gefangene in Kasachstan, schrieben. Diese Briefe halfen beiden, die 17 Jahre der Trennung zu überstehen. „Man lebt von einem Brief zum andern“, schrieb auch Margarete Schütte-Lihotzky aus der Haft.

Der Titel der vorliegenden Ausgabe „Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten“ entstammt einem Brief von Margarete Schütte-Lihotzky vom März 1942 an ihren Mann, „in dem sie die gemeinsamen Spaziergänge auf der größten der Prinzeninseln im Marmarameer sowie den Hochzeitstag […] in Erinnerung ruft.“ Als sie die Zeilen schrieb, saß sie bereits über ein Jahr in Untersuchungshaft.

Ende 1940 fuhr sie im Auftrag der Komintern nach Österreich, um in der Hauptstadt für die KPÖ zuarbeiten. „Infolge des Verrats durch einen in die Widerstandsorganisation eingeschleusten Gestapo-Spitzel wurde sie am 22. Januar 1941 in Wien verhaftet […] und zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.“ Bislang waren aus dieser Zeit lediglich 20 Briefe bekannt, jetzt können auch jene 126 in Familienbesitz befindlichen Briefe, die Thomas Flierl in den aufwendig gestalteten und ausführlich kommentierten Band aufgenommen hat, nachgelesen werden.

Wilhelm Schütte war mit seiner Frau kurz vor Beginn der „Deutschen Operation des NKWD“, einer Massenoperation, von der zahlreiche Reichsdeutsche und Politemigranten aus Österreich betroffen waren, die als Facharbeiter oder auf der Flucht vor Verfolgung in die Sowjetunion kamen aus Moskau nach Istanbul gekommen, wo er bis zu seiner Internierung im August 1944 als Dozent an der Akademie der schönen Künste arbeitete. Mit der Abreise nach Zentralanatolien, hier lebte Wilhelm Schütte bis Ende Juni 1946, bricht der Briefwechsel ab.

Nach der Lektüre der Briefe steht unter anderem die Frage nach den Gründen für die auf das Wiedersehen in Sofia 1946 erfolgte Trennung des Paares im Raum. „Margarete Schütte-Lihotzky wollte darüber nicht sprechen.“ Die Ursachen hierfür liegen vermutlich in ihren in der Sowjetunion gesammelten, jedoch auf unterschiedliche Weise verarbeiteten Erfahrungen. „Und doch werde ich eine andere sein, wenn ich wieder bei Dir bin, spurlos geht das unmöglich an einem vorüber“, notierte Margarete Schütte-Lihotzky. Ihre Arbeitskollegen und Moskauer Bekannten, unter ihnen auch Gustav von Wangenheim, kannten sie als überzeugte und sowjettreue Kommunistin. Der Frage, warum Margarete in ihren Erinnerungen die Jahre in der UdSSR so gut wie ausgeblendet hat, ist weiter nachzugehen. Daher darf man schon jetzt auf die von Thomas Flierl vorbereitete Edition ihrer Korrespondenz aus den Moskauer Jahren 1932 bis 1937 gespannt sein. Nach Jahren der Trennung ging der Wunsch des Paares, das versäumte nach Kriegsende nachzuholen, gemeinsam aktiv am Wiederaufbau Deutschlands mitzuwirken, ein Grundmotiv des Briefwechsels, nicht in Erfüllung.

Margarete Schütte-Lihotzky, Wilhelm Schütte: „Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!“ Der Gefängnisbriefwechsel 1941–1945, Herausgegeben von Thomas Flierl, Lukas Verlag, Berlin 2021, 624 Seiten, 34,90 Euro.