Am 22. Juni 1941 hatte Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen und damit den Zweiten Weltkrieg globalisiert. Der britische Historiker Arnold J. Toynbee (1889–1975) resümierte nach dem Krieg, friedfertige Völker hätten „die Tugenden, auf die es im Kriege besonders ankommt, mit so guter Wirkung geübt, dass sie zweimal“ – im Ersten und im Zweiten Weltkrieg – „den lange vorbereiteten Versuch eines militaristischen Reiches, die Welt zu erobern, vereitelten“. Militarismus war für ihn, wenn „die kriegerische Tüchtigkeit, die eine Gesellschaft zur Verteidigung gegen äußere Feinde […] entwickelt, […] in verhängnisvoller Weise zu einer sittlichen Krankheit“ wird. Er verglich den neuzeitlichen Militarismus der Deutschen mit dem früheren Spartas, der Assyrer, Karls des Großen und Timur Lengs, um zu resümieren, dass in allen diesen Fällen der Militarismus die Kultur der Gesellschaft, die ihn hervorbrachte, zerstörte und zur Auflösung dieser Gesellschaften führte. Sie zerstörten sich selbst und wurden für ihre Nachbarn unerträglich.
Toynbee ist einer der Begründer der Theorie der Kulturkreise. An den zwölf Bänden seines Hauptwerkes „Der Gang der Weltgeschichte“ arbeitete er von 1934 bis 1961. Ziel war, die Weltgeschichte als Geschichte der Menschheit darzustellen. Seine Grundthese ist, dass die Geschichtsforschung es in erster Linie nicht mit Staaten und Reichen zu tun hat, sondern mit der Geschichte von Kulturen (civilizations). Hier ist zu beachten, dass im angelsächsischen Verständnis und in Frankreich Zivilisation und Kultur gleichgesetzt sind, während in Deutschland seit Immanuel Kant ein Unterschied betont wird. Wo bei Toynbee von „Geschichte der Zivilisationen“ die Rede ist, wird dies hierzulande mit „Geschichte der Kulturen“ übertragen. In diesem Sinne war denn auch Samuel Huntingtons Buch-Titel „Clash of Civilizations“ (1996) mit „Kampf der Kulturen“ übersetzt worden – ganz abgesehen davon, dass clash eigentlich mit Aufeinanderstoßen hätte übersetzt werden müssen. Bei Toynbee sind Kulturen / Zivilisationen die grundlegenden historischen Gebilde, die sich aus sich selbst erklären und sinnerfüllte, in sich geschlossene Einheiten bilden. Dazu zählte er unter anderem die ägyptische, babylonische, griechisch-römische, altchinesische, islamische, die abendländische beziehungsweise westliche Kultur und so weiter. Insgesamt unterscheidet er 32 verschiedene Kulturen.
In diesem Sinne sind menschliche Gemeinschaften seit Jahrtausenden Vereinigungen menschlicher Tätigkeit. Sie blieben zumeist primitive Gemeinschaften. Einige brachten Kulturen hervor, zuerst im ägyptischen Niltal, im Zweistromland und in China, diese schufen Städte, Staaten und Reiche, Schriftsprachen, Schiffbau, Handel und Geld. Zugrunde liegen Religionen, die ritualisiert und verregelt, später – bei Juden, Christen und Moslems – auch aufgeschrieben sind. Wann aus einer primitiven Gemeinschaft eine Kultur wird, dafür gibt es keine allgemeinen Regeln. Die Entstehung von Kulturen hat weder etwas mit besonderen Eigenschaften einer Bevölkerung zu tun, wie es unter einer rassistischen Perspektive behauptet wurde, noch mit der geographischen Umwelt. Vielmehr ist die Entwicklung einer Kultur ein offener Prozess; je nachdem, wie sie Antworten auf Herausforderungen finden, entwickeln sie sich unterschiedlich.
Toynbee hat das Wachstum einer Kultur weder mit ihrer räumlichen Ausdehnung noch mit blanker Naturbeherrschung oder technischem Fortschritt identifiziert, sondern mit wachsender Selbstbestimmung oder Selbstentfaltung verbunden. Dabei ist eine Kultur im Wachstum, im Aufstieg durch innere Einheit gekennzeichnet. Die Gesellschaft funktioniert auf einer solidarischen Grundlage zwischen den „Eliten“ (bei Toynbee die eigentlichen Träger des Fortschritts) und dem, was er das „innere Proletariat“ nennt. (Das ist nicht das Marx’sche Verständnis, sondern umfasst alle, unabhängig von ihrer Einkommenslage, die nicht zur herrschenden Elite gehören.) Schon in der Wachstumsphase, wenn den Herausforderungen erfolgreich begegnet wird, verteilen sich die Lasten unterschiedlich. Jede folgende Herausforderung führt zu weiterer Differenzierung. Wenn die Elite sich auf früheren Erfolgen ausruht und die Differenzierung ein bestimmtes Maß überschreitet, geht die Kultur in ihre Niedergangsphase über. Die ist in aller Regel selbstverschuldet. Die schöpferische Kraft in der Gesellschaft lässt nach, das innere Proletariat als Mehrheit der Gesellschaft kündigt der Elite die Gefolgschaft auf. Das, was bei Toynbee „das äußere Proletariat“ heißt (die fremden Völker, die in der Nähe der Kultur leben, aber nicht dazugehören), lehnt sich gegen die Kultur auf – Pate standen hier die germanischen Stämme, die in das Römische Reich einfallen. Die zerfallende Kultur ist für die Nachbarn kein kulturelles Vorbild mehr; Bürgerkriege und Kriege sind die Folge.
Eine „Einheit der Kultur“ in der Welt nannte Toynbee einen „Unbegriff“. „Während die wirtschaftlichen und politischen Landkarten heute den Stempel des Abendlandes tragen, bleibt die Karte der Kulturen in der Substanz was sie war, bevor unser abendländischer Gesellschaftskörper auf wirtschaftliche und politische Eroberung auszog. Auf der kulturellen Ebene sind die Linienführungen der vier lebenden nicht abendländischen Kulturen für die, die Augen zu sehen haben, noch deutlich.“ Gemeint sind der christlich-orthodoxe, der islamische, der Hindu- und der fernöstliche / chinesische Gesellschaftskörper.
Der Verweis auf den christlich-orthodoxen Kulturkreis ist bei Toynbee für das Verständnis Russlands konstitutiv. Iwan IV. war „der erste Moskowiterfürst, der Titel und Lebensstil eines oströmischen Kaisers annahm“. Anfang des 18. Jahrhunderts wollte Peter der Große Russland modernisieren und in einen der Territorialstaaten des Abendlandes verwandeln. Die Mehrheit fügte sich in den Verzicht auf „die einzigartige Bestimmung zur Zitadelle der Orthodoxie“, einer „mit den Zukunftshoffnungen der Menschheit schwangeren Gesellschaft“. Der schimpfliche Zusammenbruch der militärischen Anstrengungen Russlands im Ersten Weltkrieg war düsteres Zeugnis dafür, dass die Verwestlichung nicht nur „unrussisch“ war, sondern zugleich ohne Erfolg. Die kommunistische Revolution hatte daher eine doppelte Bedeutung: sie war die „Annahme einer neuzeitlichen abendländischen Ideologie“, die „gegen den üblichen abendländischen Liberalismus“ rebellierte, und sie war zugleich „eine paradoxe Art der Neubehauptung des russischen Anspruchs, Erbe einer einzigartigen Erbschaft zu sein“. Über sechzig Jahre nach Toynbee und dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist deutlich, die Differenz zwischen dem abendländischen und dem christlich-orthodoxen Kulturkreis bleibt konstitutiv.
Für die Zeit nach 1945 stellte Toynbee fest, dass das russische wie das amerikanische Volk „schlecht ausgerüstet für ein gegenseitiges Verständnis“ waren. Die „Unterschiede in Temperament und Doktrin machten es beiden Völkern schwer, einander zu verstehen und zu vertrauen“. Und „dieses wechselseitige Misstrauen brütete Furcht aus“. Wer also heute nach den Gründen für die nahezu krankhafte Feindschaft in den USA gegenüber Russland fragt, von Obama über die Trump-Zeit bis zu Biden, hier liegt ein Teil der Antwort. Sie ist irrational und friedensfeindlich. Leider wurde diese Irrationalität unter Merkel auch auf Deutschland übertragen.
Zugleich hob bereits Toynbee Mitte der 1950er Jahre hervor, dass die Atombombe alles verändert hat. Größte Bedrohung war aus seiner Sicht aber nicht deren Erfindung, sondern „das Aufkommen einer Stimmung“ wie bei „dem Ausbruch der abendländischen Religionskriege“ zwischen Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert. Angesichts der Existenz von Atomwaffen stünde es Kapitalisten und Kommunisten jedoch nicht frei, „die Nutzlosigkeit von Religionskriegen auf empirische Weise zu lernen“. Das war eine weitreichende Aufforderung an die Vernunft. Die Historie zeigt, Kulturen lösen sich auf, wenn notwendige gesellschaftliche Reformen ausbleiben. Im 20. Jahrhundert konnten nur noch alle gemeinsam untergehen. Die Menschheit hat die Mittel zu ihrer Selbstvernichtung, aber auch die Möglichkeit, diese zu verhindern. Das hieß bereits bei Toynbee: „friedliche Ko-Existenz“.
Zugleich betonte er, im Kalten Krieg handele es sich um die Auseinandersetzung innerhalb der industrialisierten Welt. Am Ende jedoch werde „das letzte Wort“ bei der „nicht-abendländischen Mehrheit der Menschheit“ liegen. Die spricht jetzt. Zum Beispiel in und durch China. Hier sind die USA und „der Westen“ aber auch nicht vernünftiger, als gegenüber früher der Sowjetunion oder jetzt Russland.
Schlagwörter: Arnold J. Toybee, Erhard Come, friedliche Ko-Existenz, Militarismus, Niedergangsphase, Theorie der Kulturkreise