Erinnert sich noch jemand an Martin Schulz? Der galt einst als großer Zampano der Europa-Politik und war fünf Jahre lang wortgewaltiger Präsident des Europäischen Parlaments (der EU), der sich scharfe Wortgefechte mit Silvio Berlusconi und Viktor Orbán lieferte. Der Mann wurde 1955 in der Stadt Eschweiler geboren, einer „mittleren Stadt“ von 50.000 Einwohnern ganz fern von Berlin, am westlichen Rand des Landes, die zur Städteregion Aachen gehört. Er stammte aus „kleinen Verhältnissen“, der Vater war Polizeibeamter im mittleren Dienst und Dorfpolizist; Schulz war Grundschüler an der katholischen Knabenschule Würselen – einer anderen „mittleren Stadt“ in der Städteregion Aachen – und erlangte am ebenfalls katholischen Heilig-Geist-Gymnasium, gleichfalls in Würselen, die Fachhochschulreife. Danach machte er eine kaufmännische Berufsausbildung, wurde Buchhändler. Mit 19 Jahren trat er in die SPD ein, war später Bürgermeister von Würselen. 1994 wurde er erstmals in das EU- Parlament gewählt, wo er bis Februar 2017 verblieb.
Sigmar Gabriel, 2009 bis März 2017 SPD-Vorsitzender, schätzte seine Chancen, gegen Angela Merkel Bundeskanzler zu werden, realistischerweise als gering ein, nachdem die Kandidaten Gerhard Schröder (2005), Frank-Walter Steinmeier (2009) und Peer Steinbrück (2013) gescheitert waren. So kam Gabriel auf die Idee, eine Europa-Karte zu ziehen, und schlug vor, Martin Schulz sollte Kanzlerkandidat werden. Der wiederum hatte sein Amt als Parlamentspräsident abgeben müssen, weil auf Grund einer internen Verabredung zur Halbzeit der Legislaturperiode ein Christdemokrat dran war. Schulz fühlte sich zurückgesetzt und wollte in die Bundespolitik wechseln. Da passte Gabriels Angebot.
Gesagt, getan! Gabriel stellte das Amt des Parteivorsitzenden gleich noch mit zur Verfügung, und ein Parteitag wählte Schulz am 19. März 2017 zum Kanzlerkandidaten und zum SPD-Vorsitzenden, letzteres mit 100 Prozent der Stimmen. Das war das beste Ergebnis eines SPD-Vorsitzenden seit dem Zweiten Weltkrieg, Kommentatoren witzelten über ein realsozialistisches Resultat. Medien schrieben von einem „Schulz-Effekt“; die SPD, nach Schröder und Hartz IV Kummer gewöhnt, meldete über 10.000 Eintritte. Danach gingen drei Landtagswahlen verloren, der „Effekt“ verebbte. Bei der Bundestagswahl kam die SPD auf 20,5 Prozent. Das war das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Die Partei erklärte, in die Opposition zu gehören. Nachdem Lindners FDP aber vor der Koalition mit Christdemokraten und Grünen gekniffen hatte, rückte die SPD doch wieder in die „Große Koalition“ ein. Schulz, der im Wahlkampf getönt hatte, niemals in eine Merkel-Regierung zu gehen, wollte plötzlich Außenminister werden. Das verübelten ihm viele Sozialdemokraten und er verzichtete – dann auch auf den Parteivorsitz. Heute sitzt er als Hinterbänkler im Bundestag, darf ab und zu mal reden, vor allem wenn es um Europa geht, und tritt 2021 nicht wieder an. Ehrenhalber wurde er mit dem Vorsitz der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung abgefunden.
Bei Armin Laschet sieht es zunächst anders aus. Nachdem er seine Nominierung zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU im Intrigantenstadl gegen Markus Söder gewonnen hatte, traten etliche Parteimitglieder aus. Die verbleibenden schauten in den Spiegel, um sich zu disziplinieren, und rafften sich zum Wahlkampf auf. Schließlich ist die Christdemokratie in erster Linie ein Kanzlerwahlverein und wird durch die Macht zusammengehalten.
Dessen ungeachtet sind Parallelen zu Schulz sichtbar. Laschet wurde 1961 in Burtscheid geboren, das ist eine ehemalige Stadt, die heute zu Aachen gehört. Bei Wikipedia wurde reingeschrieben, er stamme aus einer „römisch-katholisch geprägten Mittelschichtfamilie“. Tatsächlich war der Vater Steiger auf einer Kohlengrube, die zum Eschweiler Bergwerks-Verein gehörte, und nach Umschulung Leiter einer Grundschule. Zunächst besuchte Armin Laschet eine katholische Grundschule, engagierte sich in der katholischen Jugendarbeit und wurde Messdiener. Gleichzeitig sang er im Kirchenchor, wohl auch wegen der Tochter des Chorleiters. Das Abitur machte er 1981 am Bischöflichen Pius-Gymnasium in Aachen, damals eine reine Knabenschule. Danach studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in München und Bonn; während des Studiums war er Mitglied in katholischen Studentenverbindungen, wobei die Regel gilt, dass die „alten Herren“ der katholischen Burschenschaften die Karrieren der jungen Männer befördern.
Seine Jugendliebe aus dem Chor heiratete Laschet 1985. Zu den familiären Hintergründen hatte der Journalist Wolfgang Michal 2019 recherchiert (Der Freitag): Der Chorleiter hieß Heinz Malangré und war in Aachen und Umgebung „eine Persönlichkeit: geschäftsführender Gesellschafter des kreuzkatholischen Einhard-Verlags, Direktor der Vereinigten Glaswerke in Aachen, Vorsitzender des Verwaltungsrats des TÜV Rheinland, Aufsichtsratsmitglied der Stadtsparkasse Aachen, Präsident von Aachens Industrie- und Handelskammer und Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem“. Der Bruder Kurt Malangré war Oberbürgermeister von Aachen, Abgeordneter des Europäischen Parlaments und außerdem, so Michal, „Mitglied des Geheimordens Opus Dei, Kommandeur des Päpstlichen Ritterordens vom Heiligen Gregor dem Großen, Ehrenmitglied der katholischen Studentenverbindung Carolingia Aachen und Ehrenvorsitzender der Aachener CDU“.
Schwiegervater Malangré holte Laschet 1991 in den Einhard-Verlag, wo er erst Chefredakteur der Kirchenzeitung für das Bistum Aachen und dann Verlagsleiter wurde. Als 18-Jähriger trat er in die CDU ein, wurde 1989 als 28-Jähriger für die CDU der „jüngste Ratsherr“ Aachens und nebenbei „wissenschaftlicher Berater“ von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die zugleich im Zentralkomitee der deutschen Katholiken saß. Bei der Bundestagswahl 1994 holte Laschet im Wahlkreis Aachen-Stadt das Direktmandat, 1999 wurde er in das EU-Parlament gewählt. 2005 ging er in die Landespolitik und wurde unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers Minister. Nach den Niederlagen der CDU unter Rüttgers 2010 und bei den vorgezogenen Landtagswahlen 2012 mit Norbert Röttgen als Spitzenkandidat wurde Laschet im selben Jahr CDU-Vorsitzender von Nordrhein-Westfalen und nach dem Erfolg bei der Landtagswahl 2017 Ministerpräsident.
Im Hintergrund Laschets steht sein Chef der NRW-Staatskanzlei. Der heißt Nathanael Liminski, ist Gründer einer Jugend-Vereinigung, die zum katholischen Weltjugendtreffen in Köln 2005 auftauchte, um die konservativen Positionen von Papst Benedikt zu unterstützen. Dessen Vater, Jürgen Liminski, ist Journalist und Opus-Dei-Mitglied. Nathanael Liminski studierte wie Laschet Rechts- und Staatswissenschaften und begann seine Ministerial-Laufbahn als Redenschreiber bei Roland Koch in Hessen. Später war er bei Thomas de Maizìere in Berlin, erst im Verteidigungs-, dann im Innenministerium, bis Armin Laschet ihn zu sich holte. Beobachter rechnen damit, dass Liminski wohl Chef des Bundeskanzleramtes werden würde.
Nun also ist Armin Laschet CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat. Er sieht sich als rheinische Frohnatur, den „Orden wider den tierischen Ernst“ hat er bereits. Im Fall der Fälle wäre er der erste Rheinländer im Bundeskanzleramt seit Konrad Adenauer. Nach 16 Jahren Pfarrerstochter aus dem Osten schlagen die Katholiken aus dem Fernen Westen zurück. Seine Vernetzungen in der Partei scheinen besser zu sein, als es die von Schulz waren. Aber wenn er im September scheitert, wird es ihm kaum besser gehen. Die Christdemokraten waren gegenüber Wahlverlierern stets noch ungnädiger als die SPD.
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