Die Pflanzenwelt explodiert. Die Vogelwelt jubiliert. Und da ist ein rundlicher, zierlicher, rötlich possierlicher, zutraulich verschmitzter Vogel. Ein Vögelchen, sollte man meinen, denn diese Handvoll Federn, von Gewicht 15 bis 18 Gramm und dem zärtlichen Gesang, ist eine wonnige ornithologische Miniaturausgabe. Nun hat man ihn zum Vogel des Jahres 2021 erkoren. Das Rotkehlchen. Seines Namens Erithacus rubecula, dessen bombastische Wissenschaftlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
Sitzt es auf seiner Singwarte, so leuchtet das Rotorange vom Kopf über das „Kehlchen“ bis zur Vorderbrust wie ein farbenfrohes Chemisett, welches man ihm angelegt hat. Passend dazu die Oberseite, das „Fräckchen“, in Olivbraun. Dazu dunkelbraune Knopfaugen und dünne Beinchen, denen man kaum glaubt, diese 18-Gramm-Kugel zu tragen. Es plustert sich auf, das Rotkehlchen und wird nur schlank und schmal, wenn es sich erschreckt oder Gefahr droht. Dann wippt es auf seinen Beinchen, und es ertönt ein lautes zorniges „Zik-Zik-Zik“. Aber wenn es singt, ach, wenn es singt, dann unterbricht jeder Gartenfreund das Unkrautjäten, Umgraben und das Bohnenstecken und lauscht. Zart intonierend, den Klang variierend, perlend und lieblich, in Dur ganz vorzüglich, mit Trillern geschmückt, was den Hörer entzückt. Den Tagesgesang beginnt das Vögelchen in der Morgendämmerung und behält sich vor, auch mitten in der Nacht zu singen, angeregt vom hellen Mondenschein.
Der rotbraune Sänger überrascht mit ungewöhnlicher Zutraulichkeit. Während der Gartenarbeit nähert er sich ohne Scheu der Gärtnerin, huscht und trippelt um sie herum. Zuerst nahm ich an, ich wäre ihm sympathisch. Irrtum. Er giert nach Würmchen, Larven, Käfern, die bei Lockerung der Erde ans Licht kommen, sammelt sie auf und fliegt davon.
Lobenswert ist seine Reinlichkeit., sprich, sein Badedrang. Noch bevor sich die Sonne über den Horizont schiebt, nimmt das Rotkehlchen die Morgenwäsche in regen- oder taubenetztem Gras und feuchten Blättern vor, heftig darin flügelschlagend, um sich anschließend wohlig zu putzen. Gegen Abend planscht es gern an flachen Uferstellen, in Pfützen oder aufgestellten Tränken. Ungern geht es mit dem Tagesschmutz zur Ruhe.
Man hätte es dem Kerlchen nicht zugetraut, es kann jedoch auch aggressiv werden – während der Paarung, dem Nestbau und vor allem während der Revierverteidigung. Als erstes stimmt der Verteidiger einen Kampfgesang an. Bleibt dieser erfolglos, so plustert er sich auf und wird zur bedrohlichen Kugel. Schreckt es den Eindringling noch nicht ab, dann versucht ihn der wütende Revierbesitzer auf den Boden zu drücken und – „wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe“ – nach dessen Kopf und Augen zu hacken. Der Kampf ist beendet, der Unterlegene räumt das Feld auf Nimmerwiedersehen. – Doch die Friedfertigkeit des sangesfrohen Vogels überwiegt.
Als Nestbauer bevorzugt er die Bodennähe in dichtem Unterholz und Hecken. Jede Gelegenheit, sofern sie nur einigen Schutz gewährt, wird wahrgenommen; mag sie uns auch absurd erscheinen. So fand man auf Schutthalden Nester des Rotkehlchens in Eimern, Gießkannen, Töpfen und alten Schuhen.
Die Jungvögel sind hungrig und reißen unentwegt die Schnäbel auf. Aber sie beweisen auch Schläue und betteln andere Vögel um Futter an. Und manchmal haben sie Glück. Die Rotkehlchen-Eltern revanchieren sich und helfen hin und wieder auf gleiche Weise. Das nenne ich Solidarität.
Weithin beliebt, kennt man den Sänger unter vielen Namen: Rotkehlein und Kahlrötchen, Bruströsteli und Rotbrüstchen, auch Rotkröpfchen und Waldrötlein und Rothälseli und noch vieles mehr. – Das Rotkehlchen in meinem Garten heißt Friedhelm. Ich bin überzeugt, sollte ich leise und in hohen Tönen mit „Fried-Fried-Fried“ locken, dann wird es erscheinen … oder auch nicht.
Schlagwörter: Renate Hoffmann, Rotkehlchen