Im Naturpark „Dübener Heide“, den man von Wittenberg kommend auf der Bundesstraße 2 und nach Leipzig eilend, durchquert, liegt dicht an der Straße ein Stein. Nicht irgendein Stein: Findling aus biotithaltigem Granit, geschätzte 15 Tonnen schwer, etwa 1,00 x 2,00 Meter groß, von der Saaleeiszeit hierhergeschoben und denkmalgeschützt. Einerseits seiner Herkunft und Beschaffenheit wegen, andererseits – Doctor theologiae Martinus Luther hic fuit. Aus Legende und historisch Überkommenem gefügt, wurde späterhin der Lutherstein.
Das auslösende Ereignis zu Luthers Rast am eiszeitlichen Findling waren letztlich seine im Jahr 1517 verkündeten 95 Thesen. Sie hatten die weltlichen und kirchlichen Mächte aufhorchen lassen. Der Ingolstädter Professor der Theologie Johannes Eck hielt sich für berufen, gegen die schwerwiegenden Anschuldigungen aus Wittenberg anzutreten. Er übte Kritik an Luthers Behauptungen. Das wiederum forderte die Wittenberger Vertreter der Theologischen Fakultät heraus. Allen voran ihren Dekan Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, der gleichzeitig für den guten Ruf der jungen Universität einstand.
Nach einem schriftlichen Vorgeplänkel einigte man sich auf ein akademisches Streitgespräch, das in Leipzig stattfinden sollte. Diese „Leipziger Disputation“ wird zukünftig als eine der wichtigsten Stationen der Reformationsgeschichte gelten. Für die Auseinandersetzung war der Zeitraum vom 27. Juni bis zum 15. Juli 1519 vorgesehen. Als Kontrahenten Ecks brachen in Wittenberg auf – im vorderen Wagen Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, von vielen Büchern umgeben, im Folgewagen Martin Luther, Philipp Melanchthon und hochrangige Sympathisanten. An die 200 Studenten, einige von ihnen, so sagt man, seien mit Spießen und Hellebarden ausgerüstet gewesen, bildeten eine Eskorte. Aus Solidarität und zu Schutz und Ehre ihrer Professoren. Es waren unruhige Zeiten.
Am mächtigen Granitblock wurde Halt geboten. Nach kurzer Erquickung und Worten des Abschieds trennte sich der Geleitzug. Ein Teil der Studenten blieb zurück, die anderen folgten den Reisenden. Am 24. Juni 1519 erreichte die Wittenberger Abordnung Leipzig.
Mit einer aufwändigen Festveranstaltung wurde die Disputation eröffnet. Begrüßung des Auditoriums in der Leipziger Universität, danach zum Gottesdienst in der Thomaskirche (die Thomaner sangen); feierliche Prozession zur Pleißenburg, wo die Rededuelle ausgetragen wurden. Eine Vielzahl ausländischer Gäste nahm daran teil. Gelehrte, Äbte, Grafen, interessierte Glaubensstreiter, denn es ging schließlich um theologische Grundsatzfragen. Unter den „Kongressbeobachtern“ befand sich auch Thomas Müntzer. – Die mitgereisten Studiosi randalierten inzwischen in der Stadt und lärmten nachts vor Ecks Leipziger Quartier, um ihm ihr Missfallen zu zeigen. Die Stadtwache musste eingreifen.
Aus Luthers Notizen geht hervor, dass sich Redner und Publikum täglich am Konferenzort aufzuhalten hatten, „dieweil die Disputation währete“. Das geschah am Vormittag von 7 Uhr bis 9 Uhr und nach dem Mittagessen erneut für drei Stunden. In dieser Zeit wurde jedes Wort von vier Notaren gewissenhaft aufgezeichnet. Da aber die Vortragenden lateinisch sprachen, hielt man sie an, ihre Reden möglichst langsam und deutlich zu halten.
Beobachter aus dem Publikum beurteilten den Auftritt der Kontrahenten. Luther – höflich, freundlich und ein gestandener Polemiker; Bodenstein, genannt Karlstadt – von undeutlicher Stimme und jähzornig; Eck – wortgewandt und mit gutem Gedächtnis. Randbemerkung: Da sich die Redner hin und wieder in Details verloren, übermannte einige Professoren der Schlaf (besonders am Nachmittag).
Auf der Tagesordnung standen unterschiedliche Themen. Darunter: Der Ablasshandel, den Luther anprangerte; menschliche Willensfreiheit und die Gnade Gottes; wie ist die Bibel auszulegen? Und als Höhepunkt der Diskussion: Die Autorität von Papst und Konzil. An der inbegriffenen Kernfrage schieden sich die Geister: Leitet sich die Oberhoheit des Papsttums von göttlichem Recht ab? (Eck) Oder beruht sie auf menschlichem Recht? (Luther) Mit dieser Konfrontation war die Spaltung der Kirche programmiert. Nach Abschluss der Disputation, die ebenfalls in einem Festakt ausklang, verließ die Wittenberger Delegation umgehend Leipzig.
Man erzählt, in der Dübener Heide, am Findling, wären die Delegierten von Wittenberger Studenten mit großem Hallo empfangen worden. Luther sei auf den Stein gestiegen und habe eine Predigt gehalten. Vielleicht war es auch ein Rückblick auf die „Leipziger Disputation“ und ein Ausblick in die Zukunft?
Der tonnenschwere Felsblock an der Bundesstraße 2 liegt in einem leicht erhöhten, umfriedeten Bereich, umgeben von alten Bäumen, die ihm Ehre erweisen. Er trägt die etwas verwitterte Inschrift: „Eine feste Burg ist Gott“, und die kaum noch lesbaren Buchstaben: „D M L“ – das meint Doktor Martin Luther. Neben dem Findling sah ich eine Tafel, sehr gut lesbar: „Den Stein bitte liegen lassen“.
Schlagwörter: Dübener Heide, Leipziger Disputation, Lutherstein, Martin Luther, Renate Hoffmann