24. Jahrgang | Nummer 7 | 29. März 2021

Die Interne Scheidung – eine Köpenickiade

von Gerhard Jaap

Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick aus dem Jahr 1906 wird sogar auf den Seychellen erzählt. Seit dieser Zeit ist eine Köpenickiade auf der ganzen Welt ein Gaunerstreich, verübt im Stile des falschen Hauptmanns. Der Köpenicker Wolfgang Bürger, Jahrgang 1935, hat kürzlich darüber berichtet, dass sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in der DDR ein solcher Gaunerstreich abgespielt hatte – natürlich im Stadtbezirk Berlin-Köpenick.

Die alleinstehende Frau Ingeborg arbeitete in einer Reinigungsfirma und fiel durch kleinere Diebstähle auf. In der Hauptverhandlung im Stadtbezirksgericht Berlin-Köpenick war sie geständig und erklärte die Missetaten mit ihren ungünstigen Lebensumständen. Sie hatte Glück. Das Gericht würdigte ihre Reue und verurteilte sie zu einer Bewährungsstrafe mit der Verpflichtung zum Schadenersatz. Dipl.-Ing. Wolfgang Bürger, der zu dieser Zeit als Konstrukteur in einem Elektrobetrieb tätig war, nahm an dieser Verhandlung als Schöffe teil.

Nun war im Stadtbezirksgericht gerade eine Stelle in der Reinigungsabteilung frei, und man stellte Frau Ingeborg ein. Damit wollte man auch ein Zeichen setzen, denn das Gericht hatte häufig Betriebe von der Notwendigkeit zu überzeugen, verurteilte Straftäter einzustellen, um ihnen im Rahmen der Wiedereingliederung ein geregeltes Leben zu ermöglichen.

Frau Ingeborg putzte zur vollsten Zufriedenheit, war höflich und hilfsbereit. Und für sie war es insofern ein Gewinn, als sie Einblick in die Arbeit der anderen Kammern erhielt. Insbesondere fiel ihr auf, dass Ehescheidungen Hochkonjunktur hatten. Bei der Rechtsantragsstelle herrschte immer großer Andrang. Zur Verbesserung der Arbeit wurde mit dem Termin für die Rechtsantragsstelle ein Fragebogen ausgehändigt. Das oblag der Telefonistin, deren Arbeitsplatz sich am Eingang zum Gericht befand.

Eines Tages fiel die Telefonistin für längere Zeit aus, und Frau Ingeborg übernahm bereitwillig deren Aufgaben. Über den Fragebogen für Scheidungswillige und über die Terminvergabe bei der Rechtsantragsstelle wurde sie ausführlich informiert; es war ihr ausdrücklich verboten worden, Geld für die Gerichtskasse anzunehmen. Der Gerichtskostenvorschuss belief sich auf 100 Mark. Sie verstand alles, denn schließlich hatte sie ja Abitur. Frau Ingeborg war plötzlich eine geachtete Persönlichkeit im Stadtbezirksgericht Berlin-Köpenick.

Eine Frau Zimmermann meldete sich kurze Zeit später telefonisch, dass sie ihren Termin bei der Rechtsantragsstelle nicht wahrnehmen könne, und bat Frau Ingeborg, den notwendigen Fragebogen und den Gerichtskostenvorschuss vorbeibringen zu können. Nun war die Telefonistin gerade knapp bei Kasse, sie nahm die 100 Mark und den Fragebogen entgegen, den sie erst einmal zu Hause in einem Wäschekorb, der auf dem Kleiderschrank stand, verwahrte. Und das Geld gab sie aus, immer noch mit dem Vorsatz, alles bei der nächsten Lohnzahlung weiterzuleiten.

Damit hatte sie eine zusätzliche Geldquelle entdeckt. In weiteren Fällen bot sie ihre Hilfe an, die gern angenommen wurde. Die Scheidungswilligen gaben sich mit formlosen Quittungen zufrieden, zuweilen auf Kopfbögen des Gerichtes.

Und es kam, wie es kommen musste. Der Wäschekorb füllte sich, während im Portemonnaie immer gähnende Leere herrschte. Irgendwann musste die Sache auffliegen, das wusste Frau Ingeborg natürlich. Das betroffene Publikum wurde zunehmend unruhig, und die Leute mussten hingehalten werden. Frau Ingeborg vergab nun Termine, die es im Gericht gar nicht gab, um sie dann per Telefon abzusagen, weil der zuständige Richter erkrankt sei. Auch verschickte sie aus der Telefonzentrale „offizielle“ Telegramme, um Termine abzusagen. Wenn Anrufer ungeduldig wurden und den Richter sprechen wollten, schnipste Frau Ingeborg mit dem Finger gegen das Telefon, was ein Verbindungsgeräusch vortäuschen sollte. Dann sprach sie mit verstellter Stimme als „Richterin“, so dass die Scheidungswilligen weiter hingehalten werden konnten.

Aber der Erfindungsreichtum von Frau Ingeborg war noch lange nicht ausgeschöpft. Einem weiteren Opfer, das sie im Gericht aufsuchte, erklärte sie, dass ein neuer Beschluss des Obersten Gerichts der DDR die „Interne Scheidung“ ermögliche, die eine ähnliche Wirkung entfalten sollte wie ein beschleunigtes Verfahren bei den Strafkammern, und bei dieser Kammer kannte sie sich ja aus. Bei der „Internen Scheidung“ würde ein Richterkollegium ausschließlich nach Aktenlage die Scheidung beschließen, die öffentliche Verhandlung entfalle. Voraussetzungen waren, so Frau Ingeborg in ihrer juristischen Argumentation, eine klare Sachlage, keine Kinder als Betroffene und keine großen Vermögenswerte.

Die Frau war begeistert, denn bei ihr traf alles zu. „Was muss ich denn jetzt tun?“ – „Nichts“, war die Antwort von Frau Ingeborg, denn sie war ja die Hilfsbereitschaft in Person. „Ich werde das Anliegen weiterleiten, und dann ist wieder Geduld erforderlich.“ – „Geduld habe ich“, sagte die Dame, „Sie sind ein Schatz!“ Und sie ging mit einer sehr positiven Meinung über die Gerichte in der DDR.

Und tatsächlich, einige Zeit später wurde der Scheidungswilligen eine Scheidungsurkunde ausgehändigt, auf einem gewöhnlichen Briefbogen des Gerichts und von der Empfängerin fraglos akzeptiert. Natürlich, die Urkunde war ohne gerichtlichen Siegelabdruck und deshalb wertlos. Frau Ingeborg konnte zwar die Gerichtssprache nachahmen, aber an das Dienstsiegel kam sie nicht heran.

Nun erkrankte Frau Ingeborg schwer, so dass sie auf die weiteren Ereignisse keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Die Sache nahm ihren Lauf, die Beschwerden über Frau Ingeborg wurden laut und lauter, so dass der Stadtbezirksgerichtsdirektor selbst Anzeige bei der Staatsanwaltschaft im selben Hause erstattete.

Schon am nächsten Tag machten sich zwei Staatsanwälte auf dem Weg zu Frau Ingeborg, die krankheitsbedingt die Wohnung nicht verlassen konnte. Sie wollten eigentlich nur feststellen, ob Frau Ingeborg etwas mit dieser Sache zu tun hatte. Sie legte aber, überrascht und überrumpelt, sofort ein Geständnis ab. Sie wollte ja nur helfen … Sie weinte und gelobte Besserung. Und zeigte bereitwillig den Wäschekorb, den die Staatsanwälte mit Inhalt (35 beantragte Scheidungen) beschlagnahmten.

Was auch heißt, dass ein Diebstahl von 3500 Mark gegeben war, denn den Gerichtskostenvorschuss hatte sie ja „einbehalten“. Zwei „Interne Scheidungen“ flossen mit ihren Dokumenten in die Hauptverhandlung ein, was strafrechtlich eine „Urkundenfälschung“ darstellte. Die Hauptverhandlung fand natürlich nicht im Stadtbezirksgericht Berlin-Köpenick statt, denn dieses Gericht war irgendwie Täter und Opfer zugleich und damit befangen. Die Sache ging an das Berliner Stadtgericht in der Littenstraße in Berlin-Mitte.

Die Verhandlung war öffentlich, es erschien aber kein Publikum. So waren die drei Richter, der Staatsanwalt und Frau Ingeborg unter sich. Zeitweise nahm nur der Direktor des Stadtbezirksgerichts Berlin-Köpenick teil, der die Arbeit der Angeklagten als Angestellte des Gerichts beurteilte. Die Beweislage gestaltete sich übersichtlich, das Geld war verschwunden – bis auf 300 Mark, die die Angeklagte zurückgab. Sie war geständig und versprach Besserung. Zur Idee der „Internen Scheidung“ schwieg sie beharrlich.

Das Gericht verurteilte Frau Ingeborg zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten, wegen der Vorstrafe ohne Bewährung, und auf Schadenersatz in Höhe von 3.200 Mark. Sie konnte das Gericht aber ungehindert verlassen, weil sie unheilbar erkrankt worden war.

Und woher wissen wir das alles? Wolfgang Bürger hatte nach dem ersten Prozess gegen Frau Ingeborg nichts mehr von ihr gehört, aber der Zufall wollte es, dass er wieder Schöffe und damit ehrenamtlicher Richter bei der Verhandlung im Berliner Stadtgericht war. „Das Leben ist voller launischer Zufälle“, sagte schon Sherlock Holmes zu Dr. Watson in der Meistererzählung „Der Mazarin-Stein“ von Arthur Conan Doyle. Ohne diesen launischen Zufall hätten wir nicht erfahren, wie die Tradition des Hauptmanns von Köpenick in seinem Stadtbezirk weitergeschrieben wurde.