von Christoph Butterwegge
Die sogenannten Hartz-Gesetze, vor allem das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene vierte als ihr unrühmlicher Höhepunkt, sind Kernbestandteil eines Projekts zur Restrukturierung der Gesellschaft, das die ganze Architektur und die innere Konstruktionslogik des bisherigen Sozialstaates in Frage stellt. Es ging dabei nicht bloß um Leistungskürzungen in einem Schlüsselbereich des sozialen Sicherungssystems, vielmehr um einen Paradigmawechsel, um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung. Die rot-grüne, durch eine Mehrheit der damaligen Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP im Bundesrat und die Kompromißbereitschaft der Regierungsparteien radikalisierte Arbeitsmarktreform hat unser Land so tiefgreifend verändert, daß es kaum übertrieben erscheint, von der „Hartz-IV-Republik“ oder der „Hartz-IV-Gesellschaft“ zu sprechen.
Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt waren einschneidende Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht verbunden. Hartz IV markierte nicht bloß eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut beziehungsweise Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland, sondern es steht als Symbol für die Transformation des Sozialstaates, für seine Umwandlung in einen Minimalstaat, der Langzeitarbeitslose gemäß dem Motto „Fördern und fordern!“ zu „aktivieren“ vorgibt, sich aber aus der Verantwortung für ihr Schicksal weitgehend verabschiedet.
Bundeskanzler Schröder erklärte am 14. März 2003 in seiner berühmt-berüchtigten Rede zur Agenda 2010, man müsse die Zuständigkeiten und Leistungen für Erwerbslose in einer Hand vereinigen, um die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: „Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“
Was wegen des Zwittercharakters der Arbeitslosenhilfe (Alhi) – sie war durch Beitragszahlungen begründet und von der früheren Höhe des Arbeitsentgelts ihres Beziehers abhängig, jedoch steuerfinanziert und bedürftigkeitsgeprüft – hätte sinnvoll sein können, um eine Politik der „Verschiebebahnhöfe“ zwischen beiden Hilfesystemen zu beseitigen, führte allerdings nicht zu einer Grundsicherung auf höherem Niveau, sondern einer Schlechterstellung von sehr vielen Menschen sowie einer gleichfalls problematischen Aufspaltung der Sozialhilfeempfänger in erwerbsfähige, die Arbeitslosengeld (Alg) II beziehen, und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld beziehungsweise -hilfe erhalten. Daraus wiederum erwuchsen neue Gefahren einer Stigmatisierung nach dem Grad der Nützlichkeit bzw. nach der ökonomischen Verwertbarkeit dieser Personen.
Einerseits zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte im untersten Einkommensbereich, andererseits wandelten sich durch Hartz IV auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Abschied vom Prinzip der Lebensstandardsicherung), die politische Kultur und das soziale Klima der Bundesrepublik. Mit dem, was gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiativen als „Verfolgungsbetreuung“ charakterisieren, wurde der Kontrolldruck auf (potenzielle) Leistungsbezieher/innen spürbar erhöht sowie eine Verletzung der Privat- und Intimsphäre durch „Sozialdetektive“ vorprogrammiert. Hartz IV hat also sehr viel mehr bewirkt, als gesetzlich zu verankern, daß Millionen frühere und potenzielle Alhi-Empfänger seither weniger Geld erhalten.
Ausweitung des Niedriglohnsektors:
Durch die Umsetzung des im Vermittlungsausschuß von Bundestag und -rat noch weiter radikalisierten Konzepts der Hartz-Kommission (Ausweitung nicht nur „haushaltsnaher“ Mini-Jobs sowie der Leih- beziehungsweise Zeitarbeit) hat der Niedriglohnsektor enorm an Bedeutung gewonnen. Den armen Erwerbslosen, die das Fehlen von oder die unzureichende Höhe der Entgeltersatzleistungen auf das Existenzminimum zurückwirft, treten massenhaft erwerbstätige Arme zur Seite. Längst reichen selbst viele Vollzeitarbeitsverhältnisse (besonders in Ostdeutschland) nicht mehr aus, um „eine Familie zu ernähren“.
Hartz IV sollte nicht bloß durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem „1-Euro-Jobs“), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die (noch) Beschäftigten und die Angst in den Belegschaften vermehrt. Daß heute selbst das Essen von Frikadellen und die Einlösung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro als Kündigungsgründe herhalten müssen, zeigt zusammen mit der Bespitzelung von Frauen und Männern von Betriebsräten in großen Konzernen, wie sich das Arbeitswelt verändert hat.
Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland:
Da die Zumutbarkeitsregelungen mit Hartz IV erneut verschärft und die Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen noch einmal erhöht wurden, haben sich die Möglichkeiten für Familien, ein geregeltes, nicht durch permanenten Zeitdruck, Streß und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen, weiter verschlechtert. Auf dem Höhepunkt des zurückliegenden Konjunkturaufschwungs, im März 2007, lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fast 1,929 Mio. Kinder unter 15 Jahren (von knapp 11,5 Mio. dieser Altersgruppe insgesamt) in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, die landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt werden.
Rechnet man die übrigen Betroffenen – Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und von „Illegalen“, die gar keine Transferleistungen beantragen können – hinzu und berücksichtigt außerdem die „Dunkelziffer“ (also die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe beziehungsweise Arbeitslosengeld II stellen), leben etwa 2,8 Millionen Kinder auf oder unter dem Sozialhilfeniveau; das betrifft mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters. Verschärft wird das Problem durch erhebliche regionale Disparitäten (Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle). So lebten in Görlitz 44,1 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten, während es im ausgesprochen wohlhabenden bayerischen Landkreis Starnberg nur 3,9 Prozent waren.
Hartz IV trug durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, daß Kinderarmut „normal“ wurde, was sie schwerer skandalisierbar macht. Auf das Leben der Kinder, die zur „unteren Schicht“ gehören, wirkte sich das Gesetzespaket wegen der katastrophalen Lage des Arbeitsmarktes in den östlichen Bundesländern besonders verheerend aus. Die finanzielle Lage von Familien mit Alhi-Empfängern verschlechterte sich durch den Übergang zum Alg II, was erhebliche materielle Einschränkungen für betroffene Kinder einschloß. Betroffen sind auch diejenigen Kinder, deren Väter aufgrund ihres gegenüber der Arbeitslosenhilfe niedrigeren Arbeitslosengeldes II keinen oder weniger Unterhalt zahlen (können), denn die Unterhaltsvorschußkassen bei den Jugendämtern treten nur maximal 6 Jahre lang und auch nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes ein.
Nicht nur die materielle Situation, sondern auch die Position von Frauen und (alleinerziehenden) Müttern auf dem Arbeitsmarkt hat sich verschlechtert. Die sogenannten Mini- und Midi-Jobs übernehmen größtenteils Frauen. „Haushaltsnahe Dienstleistungen“, die sie erbringen sollen, heißt im Wesentlichen, daß ihnen Besserverdienende, denen dafür nach einem vorübergehenden Wegfall des „Dienstmädchenprivilegs“ nun auch wieder Steuervergünstigungen eingeräumt werden, geringe (Zu-)Verdienstmöglichkeiten als Reinigungskraft oder Haushälterin bieten. Ist die „Mini-Jobberin“ mit einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verheiratet, braucht sie wegen der kostenfreien Familienmitversicherung keine Krankenkassenbeiträge zu entrichten. Um die vollen Leistungen der Rentenversicherung in Anspruch nehmen zu können, muß eine (Putz-)Frau jedoch ergänzende Beiträge zahlen. Selbst dann läßt sich Altersarmut kaum vermeiden. Gleichzeitig vergrößert sich der Abstand zwischen den Altersrenten von Männern und Frauen weiter zu Lasten der Letzteren.
Eine soziale Grundsicherung, wie sie das Arbeitslosengeld II laut Gesetzestext sein möchte, muß vor Armut schützen, damit sie diesen Namen verdient. Das kann man in Anbetracht der äußerst niedrigen Regelleistungen beim Alg II allerdings nicht behaupten. Mehr qualifizierte Arbeitsplätze mit ausreichend hohen Löhnen bzw. Gehältern, ein dichtes Netz öffentlicher Kinderbetreuungseinrichtungen und Gemeinschaftsschulen bilden den Schlüssel zur Bekämpfung der Kinderarmut.
Professor Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ (Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009) erschienen.
Schlagwörter: Armut, Christoph Butterwege, Hartz IV