24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

Was tun?

von Erhard Weinholz

Ja … was nur, was? Tschernyschewski hat darüber einen umfänglichen Roman geschrieben, der Generationen russischer Intelligenzler beeinflusst haben soll; ich bin über die ersten Seiten nicht hinausgekommen. Lenins Antwort war die Partei neuen Typus, aber die hat nach beträchtlichen Anfangserfolgen schon längst abgewirtschaftet, und was Stalin oder Mao in der Sache empfohlen haben, bringt sowieso nichts. Vorbei also die Zeiten, wo man meinte, sich bei sogenannten Klassikern Rat holen zu können, jetzt sind Nachbarschafts- und Selbsthilfe angesagt. Daher in alphabetischer Reihenfolge ein paar Vorschläge, alle von mir erprobt.

Idee N°. 1: Aufmerksamkeitsspaziergänge unternehmen. Denn man kann auf seinen Wegen durch Stadt und Land die schönsten Funde und Beobachtungen machen. Neulich habe ich zum Beispiel an der Berliner Prenzlauer Allee einen kleinen, nicht einmal sperlingsgroßen Vogel bemerkt, der an einem Baumstamm hinauflief und mit seinem sehr langen, dünnen Schnabel in die Rinde hackte. Es war, wie ich zu Hause herausfand, ein Gartenbaumläufer, Certhia brachydactyla, aus der Gattung der Eigentlichen Baumläufer, der Schrecken der Borkenkäfer, den ich da zum ersten Mal in meinem Leben gesehen hatte.

Finanziell lohnend war ein Fund, den ich schon vor Längerem gemacht habe: Da lag am Straßenrand, in einem Karton versteckt, eine Leica, zwar kein klassisches Modell, außerdem leicht beschädigt, aber immerhin hat sie beim Leica-An-und-Verkauf hundert Euro erbracht. Falls Sie mal eine finden sollten, kann ich Ihnen den Laden empfehlen. Und gestern, da habe ich in Blumenrabatten an der Rathausstraße einen Stoffbeutel entdeckt, in dem sich etwas Längliches verbarg. Meist stecken in solchen Beuteln zwar nur abgelatschte Schuhe, aber hier … mal reinkieken … war es ein Messer, das von einer Nobelfirma stammte, ein Messer mit langer Klinge, die sich obendrein schärfen lässt. Toll, dachte ich, erstens kann ich es brauchen, und zweitens sind solche Messer ja echte Wertgegenstände. Zu Hause habe ich ins Internet geschaut: So ist es, mehr als hundert Euro zahlt man für manche. Nur dieses hier war schon für zehn zu haben.

Idee N°. 2: Basteln, zum Beispiel für einen Frühjahrsstrauß. In Zeiten wie diesen müssen wir viel für das Gemüt tun, und deshalb blieb der Weihnachtsbaum bei uns weit über die übliche Frist hinaus stehen. Zwar kamen wir uns ein bisschen vor wie in Bölls Nicht nur zur Weihnachtszeit, aber immerhin gab es dank Kunstbaum und Elektrokerzen kein Nadeln, kein tropfendes Wachs. Am vorletzten Februarwochenende war aber doch Schluss, der Baum wurde abgeschmückt und in den Keller gestellt. Unser kleines Zimmer kam uns nun kahl und hässlich vor, und da hatte meine Freundin B. die Idee, dort einen vorösterlichen Strauß hinzustellen, geschmückt mit kleinen Blättern, die ich aus grünem Karton gefertigt habe, und einem Dutzend Aufhängern aus verschiedenerlei Schmuckpapier, das meiste farbig, einiges auch transparent, Bananenpapier, Reisseide, Sorten, die nicht jeder Laden führt. Gefunden haben wir sie in einer wohl einzigartigen Papierwarenhandlung ganz bei uns in der Nähe: Schreibwaren Linde. Wenn gewöhnliche Läden beispielsweise fünf verschiedene Adressbücher im Angebot haben und bessere zwölf, dann waren es hier vielleicht siebenundzwanzig, und zwar in allen Preislagen. Man hätte ein reich bebildertes Inventar all der Dinge dort anfertigen sollen, zur immerwährenden Erinnerung; es war eine Wahnsinnskrambude, in der sich allein die alte Frau Linde noch zurechtfand. Vor ein paar Jahren gab es einen Ausverkauf zum halben Preis, bald darauf ging sie in Rente, und wir alle wussten: So etwas kommt nicht wieder. Aber ich werde den damals gekauften Vorrat an Papieren aller Art wahrscheinlich mein Lebtag lang nicht aufbrauchen.

Idee N°. 3: Briefe und Karten schreiben, die Briefbögen selbst gestalten, zum Beispiel mit Streifen von echtem Marmorpapier. Eine große Bibliothek stellte längere Zeit jeden Dienstagabend einen blauen Container mit ausrangiertem Material auf die Straße, und darunter waren auch des Öfteren alte Bucheinbände, innen mit eben diesem Papier beklebt. Das habe ich dann abgelöst und getrocknet. Briefe schreiben also, aber bitte richtige; Leserbriefe gelten nicht. Professionelle Leserbriefschreiber gehören, wie man weiß, fast ausnahmslos zur weit verzweigten Gattung der Besserwisser und versuchen sich auf diesem Wege Autorenruhm zu erschleichen: „X. Y., einer der führenden Leserbriefschreiber unserer Zeit …“ Was ich hier schreibe, wird vermutlich viele bitterböse Leserbriefe nach sich ziehen, dabei ist es auch selbstkritisch gemeint: Ich konnte das schlechte Deutsch der Verfasser eines Editorials nicht unkommentiert lassen, obwohl sie meine Anmerkungen wahrscheinlich seufzend in den Papierkorb stecken werden. Doch was hätte ich sonst tun sollen? Schweigen bedeutet Zustimmung.

Idee N°. 4, damit kommen wir zum Buchstaben C: Champagner trinken. Kann man das, so mag man einwenden, nicht auch zu anderen Zeiten? Schon möglich, nur tut man es viel zu selten. Morgens im Bett sagt man sich: Heute haben wir so einen schönen Sonnentag oder so ein scheußliches Regenwetter oder eine derart ekelhafte Kälte, da könnte man doch … Aber dann muss man zum Arzt, zur Apotheke, zum Matratzen-Discounter und zur Bibliothek; irgendwann fällt einem ein: Wolltest Du nicht dem Champagner zusprechen? Zum Glück ist der Tag ja noch lang. Leider sind nun auch alte Rechnungen zu begleichen, Mails zu beantworten, der Handwerker, der erst nächsten Dienstag kommen wollte, steht vor der Tür: Ja, ich hatte hier gerade in der Gegend zu tun, und Dienstag geht sowieso nicht, da bin ich auf Montage. Später ruft oder winkt der Rentnerklub, und so geht es fort und fort, bis man abends im Bett liegt – vorbei. Jetzt aber, wo vieles unmöglich geworden ist, sind gute Vorsätze dieser Art leichter zu verwirklichen. Und wenn es kein Champagner ist, dann etwas aus der Zone, für die Zone, Rotkäppchen Riesling extra trocken zum Beispiel, der ist auch nicht schlecht.