24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Film ab

von Clemens Fischer

Es gibt Menschen, die nehmen,
und es gibt die, von denen genommen wird.
Es gibt Löwen und Lämmer.

Marla Grayson
in „I care a lot“

Auch in unseren Breiten soll es noch Menschen geben, die mit quasi religiöser Inbrunst auf die USA als das Land der Verheißungen schauen und an den sogenannten amerikanischen Traum („Jeder kann es schaffen: vom Tellerwäscher zum Millionär!“) glauben. Das „Kleingedruckte“ wird dabei geflissentlich übersehen: dass man dafür nämlich nicht einfach bloß rigoros die Ellenbogen einsetzen, sondern vielmehr allzeit bereit sein muss, Lämmer zu reißen, wann und wo immer man ihrer habhaft werden kann – natürlich mit hinreichend kreativer krimineller Energie, um nicht erwischt und womöglich vor dem Ziel aus dem Verkehr gezogen zu werden.

Dass gegen Trugbilder (wie Amerikagläubigkeit) mit wohlmeinenden Ermahnungen („Glotzt nicht so romantisch!“) wenig auszurichten ist, wusste schon Altmeister Brecht und griff zu seinen häufig parabelhaften Lehrstücken. Versuche vergleichbarer Art gibt es bis heute immer wieder – so gerade auf Netflix mit „I care a lot“, was mit „Ich kümmere mich wirklich außerordentlich“ im Sinne des Films angemessen übertragen sein sollte.

Marla Grayson – mit mephistophelischer Kälte bis in die letzte Faser ihres Seins gegeben von Rosamund Pike, die zwar als Bond-Girl („Stirb an einem anderen Tag“, 2002) international reüssierte, aber eher in Filmen wie dem Spätwestern „Feinde“ (2017) zeigen konnte, was sie schauspielerisch draufhat – krallt sich als staatlich bestellte Betreuerin betuchte Pensionäre mit eingeschränktem familiärem Background, um sie mit den hilfreichen Mitteln, die das US-Rechtssystem dafür bereithält, nach allen Regeln der Kunst komplett auszuweiden – was ihren Wohlstand anbetrifft.

Maxi Beigang, Kritikerkollegin der Berliner Zeitung befand: „eine herzlose, wenn auch unterhaltsame Gaunerklamotte“. Herzlos deswegen, weil der Streifen zwar versuche, an „Lina Braake (oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat)“ von 1975 anzuknüpfen, es aber im Unterschied zu Bernhard Sinkels Komödie versäume, „sich ähnlich gekonnt für die Rechte alter Menschen starkzumachen“. Diese Kritik geht in die Irre. Zwar soll nicht ausgeschlossen werden, dass Drehbuchautor und Regisseur Jonathan Blakeson, wiewohl erst 1977 geboren, „Lina Braake“ irgendwann während seiner Filmemacherwerdung zur Kenntnis genommen hat, doch die Achsen beider Streifen sind völlig verschieden. Während Sinkel die Grausamkeiten des Systems gegenüber denen, die nicht mehr gebraucht werden, dadurch aufspießt, dass ein paar agile, pfiffige Rentner das System mit seinen eigenen Mitteln aufs Kreuz legen und sich selbst ihr Recht verschaffen, geht es Blakeson um die Dekonstruktion des amerikanischen Traums auf denkbar zynischste Weise. Da sind die Wohlstandspensionäre nur Mittel zum Zweck und im Übrigen ihr Leben lang so auf Funktionieren innerhalb des Systems hin konditioniert, dass sie nicht einmal realisieren, wie ihnen geschieht.

Darüber hinaus ist „I care a lot“ eine Parabel darauf, wie Kapitalismus funktioniert. Nicht dass Blättchen-Leser das nicht wüssten, aber wie gesagt: Auch in unseren Breiten …

Mit dem Ende des Films hätte Altmeister Brecht sicher seinen Spaß gehabt, denn es liegt so ziemlich auf seiner Linie: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Doch auch dabei gilt, so Blakesons Schlusspunkt nach dem Ende: Keine Regel ohne Ausnahme.

„I care a lot“, Drehbuch und Regie: Jonathan Blakeson; jetzt bei Netflix.

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Der Helm von Sutton Hoo, Grafschaft Suffolk und am Hochufer des Flusses Deben gelegen, ist heute im Londoner Britischen Museum zu bewundern. Er gehört zu den Grabbeigaben eines angelsächsischen Herrschers oder Anführers aus dem siebten Jahrhundert nach Christus. Wieder zu Tage befördert wurde er samt anderen wertvollen Beigaben – einer silbernen sogenannten Anastasius-Platte mit einem Durchmesser von 72 und einer Höhe knapp zehn Zentimetern, weiteren Silber-Objekten, einem Schild, Resten eines Schwertes, Textilresten, Goldschmuck, einem Zepter und 37 merowingischen Goldmünzen – beim Abtragen eines der grasbewachsenen Hügel, von denen es auf dem Anwesen Sutton Hoo 18 gab. Der Fund erfolgte im Jahre 1939.

Veranlasst hatte die Grabung die verwitwete Eigentümerin des Anwesens, Edith Pretty. Auf Vermittlung eines lokalen Museums beauftragte sie damit Basil Brown, einen ambitionierten Amateur mit einschlägigen Erfahrungen. Was Brown dann fand und unter der Ägide von Charles Phillips, eines professionellen Archäologen vom Britischen Museum, das nach Bekanntwerden erster Artefakte die Grabungsleitung beanspruchte, mit freilegte, erwies sich als Überreste eines ehemals hölzernen Langschiffs mit einem Ausmaß von 27 mal 4,5 Metern, das auf beiden Seiten je 20 Ruderern Platz geboten hat, und einer darunterliegenden Grabkammer. Durch deren Beigaben avancierte der Fund zur bedeutendsten archäologischen Entdeckung auf den Britischen Inseln.

Nach damaligem englischen Recht war die Eigentümerin des Anwesens zugleich Eigentümerin der Fundstücke. Sie schenkte diese jedoch dem Britischen Museum.

Zur einzigen Bedingung dabei gemacht haben soll Edith Pretty, die bereits 1942 krankheitsbedingt verstarb, dass der Name des Entdeckers bei einer öffentlichen Präsentation im Museum entsprechend genannt werde. Diese Ehrerbietung erfuhr Basil Brown allerdings erst ab 1967. Gottseidank nicht postum.

Warum der Finder zunächst unterschlagen wurde, lässt der hochnäsige Snobismus von Charles Phillips im Film „Die Ausgrabung“ ohne Weiteres erahnen: ein Jahrhundertfund durch einen Amateur und nicht durch die Aristokratie des Fachgebietes – einfach ein No-Go. Um einen heute gebräuchlichen Scheinanglizismus zu bemühen.

Ansonsten schadet es zwar nicht, die hier skizzierten historischen Vorgänge zu kennen, erforderlich, um einen beeindruckend gespielten und fotografierten Film zu genießen, ist das allerdings nicht. Der Basil Brown im Film ist eine Paraderolle für Ralph Fiennes, von dem man ja leinwandseitig bereits seit „Der englische Patient“ (1996, Oscarnominierung) weiß, dass er schauspielerisch weit mehr zu bieten hat, als ihm seit einigen Jahren in der Rolle des „M“ in den James-Bond-Streifen abverlangt wird.

„Die Ausgrabung“, Regie: Simon Stone; jetzt bei Netflix.

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Der amerikanische Sezessionskrieg von 1861 bis 1865 – immer mal wieder als „erster totaler Krieg des Maschinenzeitalters“ apostrophiert – vermittelte mit wahrscheinlich 760.000 Toten einen Vorgeschmack darauf, welche Gemetzel konventionelle Kriegführung mit zunehmend moderneren Waffen auf den Schlachtfeldern künftig würde anrichten können. Die Mechanisierung der Waffentechnik hatte eingesetzt: Repetiergewehre waren auf dem Vormarsch, und auf Unionsseite kamen erstmals Vorläufer des Maschinengewehrs zum Einsatz sowie bei den Konföderierten eine erste Schnellfeuerkanone. Noch bis zum 31. März 2021 kann man sich in der Arte-Mediathek in einer neunteiligen Dokumentation im Detail über diesen Krieg informieren.

Wenig bekannt hierzulande ist, wie es in den letztlich unterlegenen Südstaaten der USA nach diesem Kriege zuging. Einen gewissen Eindruck davon vermittelt jetzt der Western „Neues aus der Welt“. Vorgewarnt seien jedoch Liebhaber von Filmen dieses Genres mit effektvoll durchchoreografierten Schusswechseln wie etwa „The Wild Bunch“ von Sam Peckinpah oder „Long Riders“ von Walter Hill. Mit dergleichen wartet Peter Greengrass‘ sehr elegischer Streifen, ohne deswegen etwa auf Spannungselemente zu verzichten, nicht auf. Dafür jedoch mit jeder Menge texanischer Landschaft, immer wieder ausdrucksstarker Gesichter und einiger Unlogik im Detail. Zum Beispiel wenn der Held, Captain Jefferson Kyle Kidd, ein durch die Niederlage des Südens zwangsdemissionierter Konföderiertenoffizier, nach einem zwar überlebten, aber kollateral mit dem Verlust der gesamten Ausrüstung einhergehenden Verkehrsunfall in einem weiträumig sehr kargen Landstrich mit nichts weiter als dem etwa zwölfjährigen Mädchen, das er in der Wildnis aufgegabelt hat, einem Pferd und einem Revolver einen Zwischenstopp in einem Dorf einlegt und vor dem Weiterritt angebotenes Geld und selbst Proviant trotzdem einfach mal so ablehnt. Doch sehr viele solcher Schnitzer muss Oscar-Preisträger Tom Hanks in dieser Rolle nicht spielen. Das deutschstämmige und ordentlich blondschöpfige Mädchen namens Johanna Leonberger, einst von den Kiowas geraubt und in „Cicada“ umgetauft, gibt Helena Zengel. Und die Berlinerin führt sich in den Film mit dem ein, was sie so gut kann, dass es dafür schon mal einen Deutschen Filmpreis als Beste Hauptdarstellerin gab („Systemsprenger“, 2020), nämlich mit Auftritten als exzessiv wütendes Kind. Für den jetzigen Film, der in den USA bereits seit 2020 läuft, wurde sie gerade für einen Golden Globe nominiert – als beste Nebendarstellerin. Zusammen mit Glenn Close, Olivia Colman und Jodie Foster. Zengel und Hanks, so verriet der Nachwuchsstar in einem Interview, hätten sich am Set bestens verstanden. Sie habe von ihm gelernt, „wie man auf Kommando weinen kann“, dafür habe sie „ihm ein bisschen das Reiten beigebracht“. Insbesondere Letzteres dürfte der Authentizität des Opus (119 Minuten) zumindest nicht geschadet haben.

„Neues aus der Welt“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Peter Greengrass; jetzt bei Netflix.