24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Mit Nofretete allein im Haus

von Ingeborg Ruthe

Sie schaut nach irgendwo. Irdisch schön und doch aus einer anderen Welt. Mein Herzklopfen beim einsamen und damit einmalig exklusiven Besuch, meine aufdringlichen Blicke und das Klicken der Kamera des Fotografen sind ihr völlig gleichgültig. Die Königin aus der Amarna-Zeit steht über den weltlichen Dingen. Womöglich auch über dem Corona-Lockdown, der das Museum zuschloss.

Ihren Anblick haben schon Millionen von Betrachtern der Ägyptischen Sammlung Berlins mit nach Hause genommen. Doch nie war ich der großen königlichen Gemahlin des Pharao Echnaton so nah. Niemals zuvor hatte ich das weltberühmte Kunstwerk so ganz für mich allein im üblicherweise stets übervollen Neuen Museum. Dieses irgendwann zwischen 1353 und 1336 vor Christus (18. Dynastie) in Tell-el-Amarna vom obersten Hofbildhauer Thutmosis aus Kalkstein geschaffene Abbild von Vollkommenheit. Trotz der vom Zahn der Zeit zugefügten Blessuren an den feinen, kleinen Ohren, der fehlenden linken Pupille und der abgesprungenen Mineralfarbe an der Helmkrone mit der Uräus-Schlange, Insignie der Pharaonen.

Nofretete – im Altägyptischen heißt das: Die Schöne ist gekommen, blickt ungerührt aus ihrem Hochsicherheits-Glastrakt Richtung Papyrus-Saal. Könnte es sein, dass sie sich langweilt in diesen Monaten des Lockdowns, ohne all jene Bewunderer aus aller Welt? Eine ihrer Hüterinnen, die uns ins Allerheiligste im Nordkuppelsaal des Neuen Museums einließ, Olivia Zorn, Vize-Direktorin des Ägyptischen Museums, lacht und meint: „Ich glaub, sie hat Langeweile.“

In den Lobpreisungen der Altertums-Historiker erklingt das Hohelied der Natur – über die fein geformte Nase, die hohe Stirn, die hohen Wangenknochen, die zarten Lippen und die Kajal-konturierten Augen. Nie, auch nicht in einem nächsten Leben, wird unsereins als sterbliches Wesen wohl so schön sein. Aber auch wenn ich mir neben diesem fein ziselierten Antlitz vorkomme wie ein Trampel, stimme ich neidlos dem zu, was Nofretetes Ausgräber Ludwig Borchardt anno 1912 im Tal von Amarna überwältigt ausgerufen haben soll: „Beschreiben nützt nichts, ansehen!“

Was hat man nicht seither über sie gerätselt, spekuliert, theoretisiert, seit die Expedition der Deutschen Orient-Gesellschaft, geleitet von besagtem Borchardt, sie in einer verfallenen Werkstatt unterm Wüstensand fand. Die Grabung wurde vom Berliner Sammler und Mäzen James Simon finanziert. Ein Jahr später durfte die Büste zu ihm nach Deutschland reisen. Die deutsche Forschung hatte an Ägypten, damals britisches Protektorat, gezahlt. Im Rahmen des Fundteile-Abkommens erteilte die ägyptische Altertumsverwaltung die Ausfuhrgenehmigung. 1920 schenkte Simon das heute mit keinem Geld der Welt aufzuwiegende Bildnis – man munkelt so von über 400 Millionen Euro – den königlich-preußischen Kunstsammlungen. 1924 war Nofretete erstmals öffentlich auf der Museumsinsel, nunmehr vor dem Hintergrund der Weimarer Republik jedermann zugänglich, in den Staatlichen Museen zu sehen: Nach nur einem Tag war sie schon der absolute Star.

Einige Boulevard-Gazetten vermuteten, der Bildhauer müsse total vernarrt gewesen sein ins lebende Modell. Man unterstellte ihm gar eine leidenschaftliche Affäre. Da keiner dabei gewesen war, bleibt das Ganze eine fantasiepralle Vermutung bis heute. Zu Nofretetes Regierungszeit, genau waren das nur 17 Jahre, war sie, neben Gott Aton, die ultimative Angebetete ihres Volkes. Und zwar laut der überlieferten Schriften keine Adlige, sondern eine Bürgerliche. Sie soll 19, er erst 14 gewesen sein, als man sie vermählte, und sie sollen sich geliebt und geachtet haben. Sie gebar ihm sechs Töchter und sie war ihm gleichrangig, verstand es gar, den Streitwagen zu lenken.

Von Nofretete selbst ist nichts Schriftliches auf Hieroglyphen-Kartuschen, auch nicht auf Papyrus erhalten. Bis heute streiten Ägyptologen, ob sie nun vor oder erst nach ihrem Gemahl gestorben sei. Alles liest oder hört sich an wie Fragmente von Geschichten aus der frühen Emanzipation in der Moderne. Und während sie so unberührt von Zeitläufen und Alter aus ihrer Panzerglasvitrine in die Ferne guckt, frage ich mich: Was ist absolute Schönheit? Eine Chimäre, ein Mythos, ein Schein oder eine Illusion? Irgendwann ist alles Irdische, Materielle doch dem Verfall preisgegeben.

Ich komme nicht weiter mit meinem Subjekt-Objekt-Gedankenspiel. Und so mache ich lieber links von der Königin der Berliner Herzen in der hiesigen Ägyptischen Sammlung einen Abstecher zu den Wandvitrinen mit Familienszenen. In einer Reliefszene, dem „Berliner Hausaltar“, ist Nofretete mit Echnaton zu sehen. Zwei androgyne Gestalten, einander gegenübersitzend, er auf einem Hocker, sie rechts von ihm, auf der dominanten Seite, in einem thronartigen Sessel. Die Königin spielt mit den Töchtern, auch der Gatte hat eins der Kinder im Arm, küsst es liebevoll. Keine derart egalitäre Abbildung einer Pharaonenfamilie wurde jemals gefunden. Eltern-Kind-Beziehung und Rollentausch der Geschlechter im Reich des Göttlichen?

Was für eine Homestory! Über ein Herrscher-Paar im Neuen Reich, das Revolutionäres wagte und die für die Priester höchst einträgliche Vielgötterei abschaffte sowie den Monotheismus erfand. Sonnengott Aton gab der Residenz des aus der alten Hauptstadt Theben stammenden Königspaares den Namen: Achet-Aton, das heutige Amarna. Die Priester in Theben und Karnak wurden zu Todfeinden von Echnaton und Nofretete. Diese konnten ihre Macht festigen. Bis zum Tod. In der Ära danach wurde das Rad der Geschichte zurückgedreht, Ägypten bekam wieder seine zahllosen und kostspieligen Götter.

Zurück zur Vitrine mit der Göttlich-Irdischen. Winterlicht mit etwas Sonne fällt durch die Oberlichter der Rotunde. Jetzt glaube ich, ganz feine Ansätze von Augenrändern auf dem sonst makellosen Gesicht der Schönen zu entdecken. Ich stelle mir vor, wie sie, verpackt in einem Kasten, im Kriegsjahr 1941 erst im Flakbunker am Zoo, dann kurz vorm Ende des Desasters in einem Stollen des Salzbergwerks Merkers lag. Anfang April wurde sie von US-Soldaten geborgen, dann im Tresor der Reichsbank in Frankfurt am Main gelagert. Im Juni 1956 kam die von den Amerikanern als „bunte Königin“ Eingetragene zurück nach West-Berlin. Nach etlichen Museumsstationen, über den Fall der Berliner Mauer hinweg, steht sie nun also seit Oktober 2009 als Hausheilige im aus einer Kriegsruine wiedererstanden Neuen Museum.

Ägyptens Altertums-Behörde fordert Nofretete seit Jahren zurück. Mal mehr, mal weniger vehement. Nofretete stand am Anfang einer weltweit immer intensiver geführten Debatte über die Rückgabe von Kunstwerken und Artefakten aus kolonialem Kontext. Wie würde die Schöne das finden? Gut oder schlecht? Erhaben blickt sie aus ihrem Glaskasten. Was ficht sie, als einzigartiges Weltkulturerbe, der Lärm der Welt an?

Berliner Zeitung, 04.02.2021. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.