24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Fallenbruch

von Bernhard Mankwald

Ach, du kriegst die Tür nicht zu!“ – Dieser rustikale Ausdruck mäßigen Erstaunens hat sich mir in Kindertagen eingeprägt. Angemerkt sei, dass das Tätigkeitswort im heimischen Idiom ungefähr so wie der Vorname „Chris“ ausgesprochen wird. Wer aber beschreibt die Verblüffung, wenn besagte Pforte sich trotz bester Vorsätze – in meiner Lieblingsbäckerei fürs Frühstück je ein Sesambrötchen und ein „normales“ zu erwerben – einfach nicht öffnen lässt? Der Druck auf die Klinke bleibt ohne Wirkung. Habe ich gestern etwa aus Versehen die Wohnungstür abgeschlossen? Der Griff zum Schlüssel zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Abschließen ließe sich die Tür wohl noch – aber auf geht sie nicht. Ansonsten fühlt sich das Schloss relativ schlabbrig an.

Die Stunde des Heimwerkers! Der Beschlag am Türpfosten ist mit zwei Schrauben befestigt, die sich unschwer lösen lassen – aber so schlau sind die Konstrukteure ja auch, dass der Riegel trotzdem fest sitzt. Der Beschlag an der Tür hat große, stramm angezogene Schrauben; bleibt noch die Klinke, und der passende Inbusschlüssel liegt immer noch neben dem Telefon, wo ich ihn vor Jahren deplatziert habe. Es öffnet sich der Blick auf viel Holz mit sehr sparsamen Aussparungen, die keinerlei Zugriff auf den Riegel gewähren. Also schraube ich das Ganze wieder zu.

Zwischendurch ein Blick auf den Balkon, der im Architektendeutsch eher als Loggia zu bezeichnen wäre. Er ist durch eine Trennwand vom Laubengang abgeteilt, und die ist bei näherer Betrachtung leider nicht mit Schrauben befestigt, sondern mit Nieten oder dergleichen Teufelszeug. Und der Weg außen herum ist durch eine Verschalung versperrt. Ein Stuhl verhilft mir zu einem Blick aus erhöhter Position auf meine Wohnungstür, die von außen betrachtet ganz normal aussieht. Die festzustellende Wirkung ließe sich ja vielleicht auch mit Sekundenkleber erreichen, aber ich kenne keine Nachbarn, denen ich solche Bosheit zutraue. Außerdem müssten die das Zeug ja erstmal in den sehr engen Türspalt platzieren.

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass gewisse Experten Türen auch mit Plastikstreifen öffnen können … Ein solcher lässt sich aus einem Heftstreifen gewinnen … Nach einigen vergeblichen Versuchen am eigentlichen Objekt probiere ich den Vorgang erst mal an der Küchentür aus – da kann ich mir ein Bild davon machen, an welcher Stelle der Riegel sitzt. Es klappt! Für ein paar Minuten fühle ich mich wie ein Einbrecherkönig – bis ich feststelle, dass diese Tür gar nicht richtig schließt, sondern auch durch einfachen Zug an der Klinke zu öffnen ist. – Ich ändere meine Disposition bezüglich des Frühstücks und bin froh, dass ich schon vor einer Weile den Stuten aus dem Kühlschrank geholt und auch die Butter temperiert habe. Teatime!

Anschließend wähle ich – wohl zum zweiten Mal im Leben – die einprägsamste Telefonnummer überhaupt: 112. Es ist nicht leicht, den Sachverhalt zu schildern; dazu gehört auch, dass mein Küchenfenster zum Laubengang hin etwas über Augenhöhe liegt, dass mein Balkon sich ein Stockwerk über der Terrasse der Nachbarn befindet und das Wohnzimmer zwei Stockwerke über der Straße. Schließlich wird klar, dass die Feuerwehr mir in einer akuten Notlage helfen könnte; doch so weit ist es ja noch nicht. Aber schon das sachliche Gespräch als solches ist in meiner Isolation eine substanzielle Hilfe. Also der Schlüsseldienst! Die freundliche und sachkundige Mitarbeiterin fragt mich, ob ich vielleicht Werkzeug im Haus habe und den Beschlag an der Tür entfernen kann …

Nach einer guten halben Stunde stellt sich der Monteur ein und beginnt nach einigen Präliminarien an der Tür zu bohren. Ich erfahre, dass die Falle gebrochen sein muss; das ist dieser Riegel mit dreikantigem Querschnitt, der dafür sorgt, dass die Tür ins Schloss fällt. Und nach einigen Versuchen bekommt der Experte das Ding mit einer Zange zu fassen. Ich sehe aus meiner erhöhten Position zu wie der Professor in Georg Büchners „Woyzeck“; der Blick fällt allerdings nicht auf die „culs de Paris der Mädchenpension“, sondern auf etwas in meiner Lage ungleich reizvolleres: eine Wohnungstür, die sich nach gebührendem Sträuben tatsächlich öffnet!

Die Falle ist tatsächlich gebrochen; das Teil behalte ich als Andenken. Das Schloss ist schnell ersetzt. Die Tür ist keinesfalls demoliert; die gezielt angebrachten Löcher verschwinden unter den Beschlägen. Und das verdiente Entgelt – das ja wohl der Vermieter tragen muss – hält sich im sehr hohen zweistelligen Bereich.

Die geplante kleine Wanderung hat sich für diesen Tag erübrigt. Ich genieße die wiedergewonnene Freiheit und denke darüber nach, dass diesen Tagen etwas Surreales anhaftet. Erst am Vortag hat für mich das Wort „Maskenzug“ eine ganz neue Bedeutung angenommen: ein Regionalexpress, in dem Personal und Fahrgäste sämtlich die vorgeschriebene Bedeckung von Mund und Nase tragen. Heute habe ich nun auch eine Vorstellung davon gewonnen, was hinter dem Begriff „escape room“ steckt.

In meiner näheren Umgebung gibt es mindestens zwei derartige Etablissements. Ich nehme an, dass sich darin Menschen gruppenweise gegen Entgelt einschließen lassen, um dann gemeinsam die – vorgefertigte – Lösung für ihr Entkommen zu suchen; ferner, dass diese Lokalitäten derzeit aus hygienischen Gründen geschlossen sind. Das ist nicht weiter aufregend, weil auch niemand drin ist. Mein persönlicher „escape room“ dagegen existierte überhaupt nur, solange er geschlossen war; nach erfolgreicher Öffnung hat sich der Gedanke an Flucht erübrigt.

Erübrigt haben sich für den Tag auch vage Pläne, mal wieder selbst was zu kochen. Im vietnamesischen Restaurant an der Kortumstraße hole ich mir eine Portion „Bo xao sa at“, um genüsslich in meiner Wohnküche zu speisen. Das ist gebratenes Rindfleisch mit frischem Gemüse, und dazu gibt es Reis. Der Name ist reichlich mit diakritischen Zeichen garniert, die sich auf meiner Tastatur nicht reproduzieren lassen; die Schwierigkeit besteht darin, dass das, was im Französischen „accent grave“ heißt, manchmal über dem „circonflexe“ angebracht wird. Und das vertraut anmutende Gemüse – wie Paprika, Broccoli, Möhren, Zwiebeln – kontrastiert mit den exotischen Aromen von Chili, Zitronengras und Limettenblättern. Empfehlenswert!