Fabulieren, o welche Lust. Es ergreift die Fantasievollen und entführt sie in andere Welten, ohne Grenzen, ohne Zeit, ohne Raum. Das Fabulieren steckt an. Trifft es auf einen Fabulierwilligen, so fängt er den Ball und treibt mit ihm sein eigenes Spiel. – Der Oberfabulierer heißt Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, gewesener Russisch Kaiserlicher Rittmeister, zur Welt gekommen am 11. Mai 1720. Der berühmte Monsieur reiste von Ost nach West, von Nord nach Süd. Er erhob sich in die Lüfte, versank in einem Sumpf und errettete sich stets durch schlaue Einfälle. Der Baron war ein glänzender Erzähler und begeisterte – „bey der Flasche“ – seine Zuhörer mit den erdachten Geschichten.
Eine anonyme Niederschrift von Münchhausens fantastischen Berichten gelangte in die Hände des Dichters Gottfried August Bürger. Er verlieh ihr poetische Rundung und brachte sie im Jahr 1788 auf den Markt. Mit großem Erfolg: „Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen, Zweyte vermehrte Ausgabe.“
Der Ball ward geworfen und inspirierte fortan viele Künstler, die Erzählungen nach eigenem Gusto zu wandeln. Unter ihnen befanden sich auch Gestalter und Maler der Porzellan-Manufaktur Meissen. Sie wählten zur Übertragung der „lustigen Abentheuer“ feines Porzellan. Ein Kaffeeservice mit gelbem Fond, passend zum Braun des dampfenden „Türkentrankes“.
In goldumrandeten Kartuschen sind mit zierlichem Pinselstrich die vergnüglichen, fantastischen, kuriosen, verstiegenen, wunderlichen Begebenheiten des „Hieronymus Carole Fredericus“ aufgetragen. In ihrer gewinnenden Heiterkeit finde ich sie auf den Gedecken und deren Zubehör. Die Gestalter gaben den Tassen eine kongeniale Form: schmal am Fuße und sich nach oben elegant öffnend. Das Eine bewahrt die Wärme des Getränkes, das Andere gewährt den verführerischen Duft.
Der Baron beginnt seine Erzählungen höchstselbst: „Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an. […] Das ganze Land lag unter Schnee; und ich wußte weder Weg noch Steg.“ Kurzum: Nacht. Müdigkeit. Hieronymus bindet sein Pferd „an eine Art von spitzem Baumstaken“ und legt sich in den tiefen Schnee. Schlaf. Über Nacht Tauwetter. Schnee weg. Pferd weg. Nein! Es baumelt an der Kirchturmspitze, dem vermuteten „Baumstaken“. Der Baron zielt, wird es gleich herunterschießen, aufsteigen und nach St. Petersburg reiten. Rundum grünen Busch und Baum. Die Sonne steht hoch am Himmel. Was man nicht sieht / hört, ist das fröhliche Wiehern des Reittieres auf dem Teller. Wird man auf dieses hübsche Motiv seinen Mohnkuchen legen?
Münchhausen ist passionierter Jäger. Wild und Wassergeflügel nimmt er aufs Korn. Oftmals verschoss er die letzte Kugel oder die letzte Schrotladung und dann erst … (sah ich) „auf einem Landsee […] einige Dutzend wilder Enten allzu weit voneinander zerstreut umher, als daß ich denn mehr als eine einzige auf einen Schuß zu erlegen hoffen konnte.“ Natürlich steckte nur noch eine Kugel im Flintenlauf. Überlegung: Hieronymus entnimmt der Jagdtasche ein Stück Frühstücksspeck, befestigt es an der aufgetrudelten Hundeleine und wirft es als Köder aus. Ente Numero 1 verschlingt ihn und bringt ihn unverdaut am anderen Ende wieder heraus. Ente Numero 2 nimmt ihn auf und der Vorgang beginnt von Neuem. Und so fort und so fort. „Und so saßen sie denn alle daran, wie Perlen an der Schnur.“ Die Entenschar erhob sich in die Lüfte mitsamt dem Schützen, flog nach dessen „Behausung“ und landete direktemang auf dem Küchenherd (ohne den Baron!). – Diese Luftfahrt sieht man auf der Kaffeekanne. Münchhausens Rockschöße flattern. Das riesenhafte Gewehr bremst etwas die Geschwindigkeit. Die wunderliche Gesellschaft überfliegt die „Behausung“. Aus der Esse steigt Rauch auf und die Vormittagssonne scheint. – Hat man seinen Kaffee ausgeschenkt, so ist es ratsam, danach einen „Jägermeister“ zu sich zu nehmen.
Ein weiteres Jagdabenteuer bringt auf Grund seiner ungewöhnlichen biologischen Aussage die Evolutionsforscher ernsthaft ins Grübeln. „Einst, als ich alle meine Blei verschossen hatte, stieß mir ganz wider mein Vermuten, der stattlichste Hirsch der Welt auf. […] Augenblicklich lud ich indessen meine Flinte mit Pulver und darüber her eine ganze Handvoll Kirschsteine. […] Und so gab ich ihm die volle Ladung mitten auf seine Stirn zwischen das Geweihe.“ Ein oder zwei Jahre später: “war ich in ebendemselben Walde auf der Jagd, und siehe! Zum Vorschein kam ein stattlicher Hirsch, mit einem vollausgewachsenen Kirschbaume zwischen seinem Geweihe.“ – Der Baron ist überrascht, man sieht es ihm an. Ein wiedererkennendes Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Wohlwollend hebt er die Hand. Der Baum „hing reichlich voll Früchte, die ich in meinem ganzen Leben so delikat nicht gegessen hatte.“ – Auf diesem Teller würde ich mir bedenkenlos ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte servieren lassen.
Auf dem Milchgießer saust Hieronymus, getragen von der berühmten Kanonenkugel, durch die Lüfte, und auf dem Zuckerdöschen springt der tolle Kerl mit seinem Pferd durch eine fahrende Kutsche. Zur einen Tür hinein und zur anderen wieder heraus.
Die Tassen, bilderreich geschmückt, sind Kunstwerke der Figurenmalerei und Spiegelbilder von Münchhausens „Wunderbaren Reisen zu Wasser und Lande.“ – Während der Betrachtung wird der Kaffee kalt – und die Seele vergnügt.
Kaffeeservice Baron von Münchhausen, Porzellan-Manufaktur Meissen, (1960er Jahre), Form: Erhard Großer, Alexander Struck, Ludwig Zepner, Dekor: Heinz Werner.
Schlagwörter: Gottfried August Bürger, Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, Porzellan-Manufaktur Meissen, Renate Hoffmann