Noch immer wirkt Rosa Luxemburgs polnisches Werk wie verborgen, so, als verhinderte ein dicker Nebelschleier den Durchblick. Kaum noch fällt klärendes Licht auf diesen Teil ihres Schaffens, der mit dem größer werdenden zeitlichen Abstand immer unbegreiflicher zu werden droht. Fast scheint es heute, als sei Rosa Luxemburg 1898 in Berlin der erstaunten deutschen Sozialdemokratie plötzlich und jungfräulich in den Schoß gefallen, um darin zu reifen. Nach dieser schiefen Lesart ist Rosa Luxemburg dann vollständig ein Kind der deutschen Sozialdemokratie, indes kam sie politisch auf ganz andere Weise zur Welt.
Die Geschichte der auf die maschinelle Großindustrie gestützten modernen Arbeiterbewegung Polens wird seit 1892/93 geschrieben, und zugleich ist es die Geschichte einer tiefen Spaltung. In Paris schlug im November 1892 die Geburtsstunde einer Richtung, die in der staatlichen Wiederherstellung Polens die erste Voraussetzung sah für den anschließend einzuschlagenden Weg in den Sozialismus. Die Dreiteilung Polens sollte überwunden werden, wobei sich ausdrücklich auf Friederich Engels bezogen wurde, der in dieser Zeit deutlich zu verstehen gab, dass ein polnischer Arbeiter, der jetzt nicht für die staatliche Unabhängigkeit Polens sich einsetze, so etwas sei wie ein deutscher Arbeiter, der nicht gegen das Sozialistengesetz gekämpft hätte. Die Richtung gab sich den stolzen Namen Polnische Sozialistische Partei (PPS) und verstand sich – organisatorische Trennungen hin- oder her – als eine Partei für alle drei polnischen Teile gleichermaßen.
Wenige Monate später, im Sommer 1893, organisierte sich in Zürich eine zweite Richtung, die sich aber von vornherein ausschließlich auf den russischen Teil Polens konzentrierte und einen ganz anderen Weg hin zum Sozialismus zeichnete: Die zentrale politische Aufgabe für Polens Arbeiterbewegung sei der Sturz der Zarenherrschaft, eine politische Revolution also, die bereits die Form einer Arbeiterrevolution annehmen müsse und deren Kern die Durchsetzung voller politischer Freiheit sei. Anders als bei der PPS war damit nicht der feste nationale Bund zwischen den drei Teilen Polens entscheidend, sondern der enge Kampfbund mit der russischen Arbeiterbewegung, deren Entwicklung in den sich herausbildenden großen Industriezentren im eigentlichen Russland auch für die Zarenpolizei nicht mehr aufzuhalten war.
Das sogenannte Königreich Polen, der westlichste Zipfel im Riesenreich und der Fläche nach etwa so groß wie später die DDR, war in den zurückliegenden Jahren aus einer ganzen Reihe von Gründen schnell zum führenden Industriezentrum in den Grenzen der Zarenmacht aufgestiegen. Außerdem war es der einzige Landstrich im dreigeteilten Polen, der in einem modernen Sinne industrialisiert war. Nun den Schwerpunkt in der politischen Ausrichtung auf den möglichst engen Schulterschluss mit der sich immer stürmischer herausbildenden russischen Arbeiterbewegung zu legen, lag nahe, weshalb der programmatische Name dieser Richtung schnell gefunden war: Sozialdemokratie des Königreichs Polen (SDKP).
Zu den Gründungsmitgliedern dieser ersten sozialdemokratischen Partei im Zarenreich zählten neben Rosa Luxemburg auch Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warski. Die vier bestimmten die programmatisch-intellektuelle Ausrichtung in den Anfangsjahren völlig. Diese Phase ist außerdem gut zu rekonstruieren anhand des in 25 Nummern erschienenen Parteiorgans Sprawa Robotnicza (Arbeitersache), das in einem Diskussionsforum wie Gründungsdokument für diese Richtung war. Eine scharfe polemische Feder schwang dabei Rosa Luxemburg, die ihrem schriftstellerischen Temperament freie Bahn ließ, sobald es galt, für die eigene und gegen die PPS-Richtung ins Feld zu ziehen. Sie stritt mit klugen und zunehmend ausgefeilten Argumenten für die Notwendigkeit voller politischer Freiheit, für die kommende Arbeiterrevolution im Zarenreich, für den festen Kampfbund zwischen polnischer und russischer Arbeiterbewegung nach sozialdemokratischer Maßgabe sowie gegen die Illusion einer Wiederherstellung Polens.
Wie sehr sich die vier Züricher der sozialdemokratischen Richtung verschrieben hatten, mag folgende Begebenheit illustrieren: Als sie für die Arbeiter in Polen das „Kommunistische Manifest“ in dessen Entstehungszeit einzuordnen suchten, wurden Kommunisten einfach als die Sozialdemokraten von damals beschrieben. Und noch an der Jahreswende 1918/19, als es um den Namen der nun nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs neuzugründenden Partei ging, widersetzten sich Rosa Luxemburg und Leo Jogiches einer auf Kommunistische Partei hinauslaufenden Bezeichnung. Ein polnischer Genosse, der beide in Berlin auf dem Weg nach Warschau aufsuchte, um letzte Dinge für die bevorstehende Gründung einer Kommunistischen Partei auch in Polen abzusprechen, erinnerte sich später an den entschiedenen Widerstand der beiden gegen den Namen. Als er nun fragte, was sie ihrerseits denn vorschlügen, hörte er Revolutionäre Sozialdemokratie und wandte ein, dass der Name aus Sicht der beiden doch eine Tautologie sei.
Wer hinabsteigt in den Anfang, in den Urgrund der Sozialdemokratin Rosa Luxemburg, der nun mal ein polnischer gewesen ist, wird fündig, wenn er sich das gesamte Werk vor Augen hält. Fast alles, was später reifte und meisterhaft entwickelt wurde, ist in den Anfangsjahren von 1892 bis 1898 bereits fest angelegt, wenig an Grundsätzlichem brauchte später noch hinzugefügt werden. Sicherlich sind die einzelnen Ausführungen in den späteren Jahren gehaltvoller und mit einem ganz anderen politischen Leben untersetzt als am Anfang, doch das Grundgerippe des gesamten Denkgebäudes war ausgebildet.
Was da 1898 in Berlin der deutschen Sozialdemokratie in den Schoß fiel, war eine ausgemachte Sozialdemokratin, die zudem den großen Vorzug mitbrachte, den gleichermaßen frischen wie scharfen Wind in den heftigen Auseinandersetzungen und politischen Kämpfen im Zarenreich zu verstehen.
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