23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Denkmäler

von Stephan Wohanka

Ich weiß – das Berliner Schloss respektive Humboldt-Forum hat nicht nur Freunde. Insofern dürfte der Vorschlag, kürzlich in einem Radio-Essay gemacht, auf das erste Hören hin Genugtuung auslösen: „Sobald das Berliner Schloss fertiggestellt ist, […] schlage ich vor, es wieder dem Erdboden gleichzumachen. […] Und wenn es völlig geschleift ist, soll an seiner Stelle ein Modellnachbau des Palastes der Republik errichtet werden […] Ich stelle mir den Abriss als öffentliches Ereignis vor, als einen Festtag für diejenigen, die sich gegen den Wiederaufbau des Schlosses ausgesprochen haben.“ Doch das war es noch nicht: „Und ist das letzte Paneel eingesetzt, das letzte Lampenmodell im Foyer (des Palastes der Republik – St.W.) installiert, soll auch dieses Denkmal wieder abgerissen werden. Es kann ein weiteres Fest geben – vielleicht werden dieselben Leute, die den Abriss des neuen Schlosses bejubelt haben, auch diesen Abriss feiern. Anschließend wird das Berliner Schloss wiederaufgebaut. Und wieder zerstört. Und so weiter.“ Was soll das denn nun? Die Erklärung ist die: „Und es ist Zerstörung aus politischen, nicht aus praktischen Gründen, die im Mittelpunkt der Kontroverse um diese beiden Gebäude, diese Denkmäler steht, die so stark mit politischer Bedeutung aufgeladen sind – gibt es da eine bessere Art und Weise, ihnen beiden zu gedenken, als aus der Zerstörung selbst ein Denkmal zu machen?“

Zugegeben, der Autor sieht das Ganze als „Gedankenexperiment“. Jedoch „Zerstörung“ mit Happeningqualität zum „Denkmal zu machen“ ist so absurd nicht; davon zeugen einige Denkmalstürze der letzten Zeit: So im englischen Bristol, wo man die Statue des Sklavenhändlers (und Wohltäters der Stadt) Edward Colston ins Hafenbecken warf, oder in Boston, USA, wo man Christoph Kolumbus´ Standbild einen Kopf kürzer machte. Die Hafenbeckenaktion sei „eine Art Denkmal“ – wenn auch ein künstlerisches beziehungsweise temporäres, jedenfalls sei es „eine künstlerische Ausdrucksform, die sehr angemessen ist“ ließen sich Aktivisten ein. Ein bekannter Denkmalsturz hierzulande ist der des 1905 verstorbenen Kolonialgouverneurs von Deutsch-Ostafrika (heute überwiegend Tansania) Wissmann, das nach einigen Umwegen mit Unterbrechung seit 1919 vor der Universität Hamburg stand und 1968 demontiert und musealisiert wurde. (Das Berliner Lenin-Denkmal wurde eher prosaisch von der Naturstein-Vertrieb GmbH abgebaut. Es gab Proteste; den Begriff Happening kannten die Protestierer noch nicht und hätten ihn auch wohl abgelehnt).

Momentan entzündet sich die Debatte, wie erwähnte Beispiele zeigen, an Denkmälern, die positiv an die, auch deutsche, Kolonialgeschichte erinnern. Zählt man bei Wikipedia nach, kommt man hierzulande heute noch auf 21 koloniale Erinnerungsorte: Denkmäler, Gräber, Tafeln (in Kirchen). Wenn man jedoch „Zerstören“ nicht zur einzigen „Umgangsweise“ mit diesen Denkmälern machen will – wie dann mit diesen umgehen?

Positionen beziehen die Aktivisten des Vereins Berlin Postkolonial. Mit einem bloßen Abbau von Kolonialdenkmälern sei es nicht getan; stattdessen sollten diese umgestaltet werden, wobei „wichtiger als das Wie das Wer“ sei: Die Nachfahren Kolonisierter sollten entscheiden, was mit den Denkmälern passiere. Man wolle sie aber und damit Geschichte nicht entsorgen, sondern „Gegendenkmäler an gleicher Stelle“ errichten oder bestehende „Denkmäler verfremden oder gar zersägen und in Einzelteilen am Ursprungsort anordnen. Auch das kann ein Denkmal sein, so dass immer noch ein Bezugspunkt bleibt.“ Informationstafeln reichten jedenfalls nicht aus, da diese kaum von Nachfahren Kolonisierter stammten, sondern von Kommunen, die „die Sache“ so noch zu retten suchten. Bei einem Denkmal sei das zu wenig, weil dies eine eigene Formsprache habe, die viel gewaltiger sei als ein kurzer Kommentar „und auch ein Gegendenkmal kann nicht zehn Mal kleiner sein als das Denkmal, worauf es sich bezieht.“ Der Verein regt auch die Errichtung einer Zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Kolonialismus in Berlin an; die Hauptstadt wäre ein idealer Ort für ein derartiges Denkmal, denn hier fand die Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 und damit die Aufteilung Afrikas statt. Wichtig sei allerdings auch dabei, „dass auch wirklich Nachfahren Kolonisierter maßgeblich mitentscheiden, wie dieses Denkmal aussieht, und wir nicht so etwas haben wie ein zweites Humboldt-Forum“; sic!

Können oder sollten „Nachfahren Kolonisierter maßgeblich mitentscheiden?“ So einleuchtend wie die Anregung auf den ersten Blick erscheint, ist sie nicht! „Nachfahren“ sind nicht die wirklichen Opfer; sie sind selbst ernannte Opfervertreter, die sich selber das Recht auf Meinungsäußerung zum Thema zusprechen. Aus Sicht dieser Opfervertreter haftet auch an den Nachfahren der Täter untilgbare historische Schuld; die Identität der Opfer und auch der Täter wird vererbt. Es droht die Gefahr, dass der selbst erklärte Opferstatus genutzt, ja missbraucht wird, um andere unter moralischen Druck zu setzen. Indem man sich als Minderheit machtlos gibt, übt man Macht aus; der Opferstatus wird zum politischen Kapital. Insofern ist eine Mitsprache der „Nachfahren“ durchaus legitim, jedoch nicht in „maßgeblicher“ Hinsicht.

Die Kolonialzeit und die Sklaverei, die mit den „Entdeckern“ und namentlich Kolumbus begann und ihn heute den Kopf kostet, sind gottseidank Vergangenheit. Menschenrechte und -würde waren damals so unbekannt wie die befahrenen Meere und unterjochten Erdteile; und danach war die koloniale Praxis: Grausam, menschenverachtend. Die Fakten sind überwiegend erforscht, aber Fakten sind nicht Geschichte! Nach Theodor Lessing ist Geschichte „Sinngebung des Sinnlosen“, also Interpretation der Fakten. Und diese variiert im Verlaufe der Jahrhunderte. Erste auf uns überkommene Gedächtnismale erzählen als zeithistorische Quellen davon, wie sich diese kolonialen Akteure selbst wahrnahmen: Vor allem als gottesfürchtige Christenmenschen. Da Kolonial-Denkmäler oft erst etliche Jahrzehnte später errichtet wurden, sind sie „Interpretation“ schon historischer Vorgänge: Sie verherrlichen diese und zeugen vom Glauben an eine kulturelle Überlegenheit der Kolonialmächte über die „Naturvölker.“ Heute nun der (selbst)kritische, diese Sicht revidierende, die Kolonialverbrechen aufdeckende Blick; Geschichte also als Fluss permanenter Deutung und Umdeutung. Sollte jetzt Schluss damit sein, indem wir diese Gedächtnisorte und Denkmäler „zersägten“ oder „verfremdeten“ und so uns nachfolgenden Generationen die Möglichkeit nähmen, sich wiederum ihr Bild – auch von den „Interpretationen“ – zu machen?

Hierzulande geht es bei der Auseinandersetzung um die Kolonialgeschichte auch um Straßennamen: In Berlin waren und sind namentlich die Mohrenstraße und Straßen im so genannten Afrikanischen Viertel im Wedding Stein des Anstoßes; insgesamt wohl zehn. So schreibt ein Schwarzer Berliner Basketballer in einem Post: „Die Onkel-Tom-Straße in Berlin und die dazugehörende U-Bahn-Station sind schmerzhafter Bestandteil meines täglichen Lebens. Jedes Mal, wenn ich diese Straße entlang fahre, muss ich daran denken, wie entmenschlichend und verletzend der Begriff ist.“ Er möchte Straße und Station umbenennen. Seine Initiative erinnert mich an die Kontroverse um Eugen Gomringers Gedicht avenidas, vormals an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule zu lesen, dann übertüncht: Studentinnen fühlten sich durch einen admirador als Objekte männlicher Lüsternheit bloßgestellt. Sollte derartigen Empfindlichkeiten in jedem Falle nachgegeben werden? Eher nicht. Wie oft muss man Worte, Handlungen oder Situationen, ja auch nur Gesten, die als verletzend wahrgenommen werden (können), im „normalen“ Leben hinnehmen? Wobei das, was als verletzend empfunden wird, die jeweils sich betroffen Fühlenden bestimmten. Die Schutzwürdigkeit individueller Verletzlichkeit drohte so immer weiter ausgedehnt und damit völlig überdehnt zu werden. Schlussendlich jedem seine Betroffenheit?