23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Wandlitz anno 2020

von Walter Thomas Heyn

Ich bin Musiker und sage in meinen Konzerten gerne: „Wir wohnen in Wandlitz.“ Und nach einer kurzen Pause sage ich: „Aber wir warens nicht.“ Dann lachen 80 Prozent der Zuhörer und ich sage: „Wer jetzt nicht gelacht hat, ist Wessi“. Dann lachen alle. Oder niemand.

Einmal durfte ich „da“ rein, in die sagenumwobene Siedlung, wo die Mächtigen damals wohnten. Vera Oelschlegel, eine bedeutende Brecht-Interpretin lebte in diesem Städtchen, weil sie Konrad Naumann liebte, den bulligen Politbüroproll. Ich wollte ihr meine Lieder vorstellen, sie lud mich ein. Der halbe Tag bestand aus Warten, warten an diesem Tor, warten an jenem Tor, Gegensprechanlage, warten. Ich sah das Schwimmbad und die legendenumrankte Kaufhalle, in der es gerade Äpfel gab. Es passierte nichts. Meine Lieder blieben ungesungen.

Drei Jahre später gab einer eine Pressekonferenz. Günter Schabowski las einen Zettel ab, dessen Inhalt seiner Meinung nach „sofort, unverzüglich“ in Kraft treten sollte. Danach blieb kein Stein mehr auf dem anderen.

Am Tag der Tage ging die Familie früh ins Bett. Außer mir. Ich zappte ein paarmal hin und her, erwischte Schabowskis Pressekonferenz und wusste dann, dass der Nachtschlaf kurz ausfallen würde. Schauderhafte und berauschende Bilder ohne Ende, einmalig! Die Familie nahm beim Frühstück beiläufig Notiz davon. In der Schule fehlten 50 Prozent der Lehrer und 80 Prozent der Schüler. Die Geschäfte waren leer, Busse und Bahnen fuhren deutlich seltener als sonst. Ich war nur müde.

Aber dann war die Mauer wirklich offen. Einfach so. Weil einer sich verquatscht hatte. Oder er hatte sich nicht verquatscht. Keine Ahnung. Man fuhr los gen Wessiland, Begrüßungsgeld abholen. Peinliche Szenen die Menge, auch manch Neugeborene und Sterbende mussten mit, jeder Hundertmarkschein zählte. Wir waren unterwegs in einem so überfüllten Zug, dass die Angestellten der Reichsbahn mit Megaphonen außen vorbeiliefen, um dem Publikum mitzuteilen: „Die Achsenlast dieses Zuges ist überschritten. Mitreisen auf eigene Gefahr.“ Der Zug brauchte sechs Stunden statt derer zwei nach Berlin. Unser Großer, damals 14 Jahre alt, kaufte nichts und weinte abends, weil er nichts gekauft hatte: Er konnte sich zwischen all den Sachen einfach nicht entscheiden. Die Kleine, zehnjährig, kaufte sofort ein Skateboard für 99,90. Alles kostete 99,90. Oder 9,99. Prima billig. Und so schön bunt hier. Die Fahrt zurück (wieder sechs Stunden) war der reine Horror: betrunkene Väter, übermüdete, hungrige, erbrechende Kinder, die über die Köpfe der überreizten Erwachsenen zur Toilette durchgereicht werden mussten. Nie wieder, sagte ich zu mir selbst und nahm lieber vor dem Fernseher Platz.

Wandlitz, der frühere Hassort vieler Berliner, das „Städtchen“ der allmächtigen Greise, ausgerechnet Wandlitz ist unsere neue Heimat geworden. Ein echter Treppenwitz der Geschichte für einen Leipziger Bürgerrechtler. Und eine gute Adresse, denn jeder kennt den Ort. Es gibt Rehe und Einkaufszentren in fußläufiger Entfernung. Es gibt „Zum Glück“, dass selbstgebraute Gottlieb-Bier, gute Bäcker und Fleischer bis Klosterfelde hoch, einen tollen Buchladen, schöne Seen an jeder Ecke und eine nicht zu sehr nervende Verwaltung. Es gibt gute Ärzte und Hilfe, wenn Augen und Ohren schlechter werden. Meine Frau kennt viele der netten Bewohner durch den Heidekrautexpress, der erstaunlich zuverlässig fährt. Das Leben kann einfach sein. Und es kann einfach schön sein.