Der Journalist und Kulturhistoriker Hans Ostwald erforschte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „dunklen Seiten“ der Großstadt Berlin. Bereits in seinem autobiografischen, im Jahre 1900 erschienenen Roman „Vagabunden“ hatte er anschaulich und realitätsgetreu das Leben der Armen und Ärmsten, der Landstreicher und Entgleisten geschildert.
Mit den „Großstadt-Dokumenten“ startete er 1904 schließlich eine Veröffentlichungsreihe, die zeigen sollte, wie aus dem idyllischen Spree-Athen eine damalige Weltmetropole wurde. Ursprünglich auf zwanzig Bände angelegt – dazu als Vergleichsstudie zehn Wien-Bände – sollte die Reihe bis 1908 jedoch auf fünfzig Bände anwachsen. In der programmatischen Vorrede des ersten Bandes „Dunkle Winkel von Berlin“, der von Ostwald selbst verfasst wurde, skizzierte er das Ziel der Reihe: „Diese Großstadtdokumente sollen über die eigenartigen Persönlichkeiten und Bevölkerungsschichten, über die sittlichen und sozialen Zustände unserer Großstädte Licht verbreiten. […] Sie sollen aus dem vollen Leben heraus ihren Extrakt geben.“ So war der Auftaktband eine Sammlung von Reportagen über die Lebenswelten der Arbeits- und Obdachlosen, der Armen und der Halbwelt Berlins, die die Stadt gewissermaßen von unten beleuchteten.
Ostwald, der noch für vier weitere Bände (so über Berliner Tanzlokale und das Zuhältertum in der Stadt) verantwortlich zeichnete, wollte jedoch nicht nur die gesellschaftlichen Randgruppen und die „Nachtseiten“ Berlins herausstellen, sondern auch die Bedeutung der Stadt als Handels- und Verwaltungsmetropole betonen.
Im Galiani Verlag ist jetzt eine Auswahl der Großstadt-Dokumente erschienen, die diese Bandbreite der Themen und die Kontraste in der Stadt widerspiegelt – von Glücksspiel über Straßenkriminalität und Okkultismus bis hin zum großstädtischen Wohnungselend.
Ostwald gelang es, für wichtige Themen prominente und fachkundige Autoren und Milieukenner zu gewinnen. Reporter und Feuilletonisten richteten ihren Blick auf das Neue und Unvertraute der Metropole, während schreibende Praktiker wie Ärzte oder Rechtsanwälte über ihre Berufserfahrungen berichteten.
Die Galiani-Auswahl berücksichtigt vor allem Themen, die sich durch viele Bände der Großstadt-Dokumente ziehen und die die Idee des Projektes abbilden.
Der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld war mit „Berlins drittes Geschlecht“ (Band 3) und „Die Gurgel Berlins“ (Band 41) zweifacher Autor, der sich in den beiden sozialen Studien mit homosexuellen Lebensweisen sowie dem Alkoholkonsum beschäftigte. „Berliner Sport“ (Band 10) vereinte Reportagen des Sportpublizisten Arno Arndt über Großveranstaltungen (Pferderennen in Hoppegarten und Karlshorst, Radrennen in Friedenau oder Segelregatta in Grünau), während der Journalist Richard Dietrich in „Lebeweltnächte der Friedrichstadt“ (Band 30) über die Berliner Amüsierbetriebe berichtete. „Großstadt-Sozialismus“ (Band 44) des Arztes Martin Ebeling hingegen stellte ein politisches Manifest der „Bodenreform“ dar, eine Art Sammlungsbewegung mit christlichem Hintergrund.
Thomas Böhm, der Herausgeber der Auswahl, skizziert in seinem Vorwort „Das Leben selbst soll sich mitteilen […]“ auch die Biografie von Hans Ostwald, der nach den Großstadt-Dokumenten zunächst weiterhin als Berliner Kultur- und Sittengeschichtsschreiber tätig war. Mit „Der Urberliner“ und „Das Zillebuch“ gelangen ihm in den 1920er Jahren außerdem zwei Bucherfolge.
Später distanzierte er sich von seinen literarischen Anfängen, auch von den Großstadt-Dokumenten, und versuchte nach 1933, sich den neuen Machthabern als „politisch zuverlässiger Autor anzudienen“. Trotz einiger Artikel für den Angriff und den Völkischen Beobachter waren diese Versuche jedoch weitgehend erfolglos. Ostwald starb am 8. Februar 1940. Die Zerstörung Berlins sollte der äußerst produktive Chronist der Stadt nicht mehr erleben. Sein Name ist heute kaum noch bekannt und die von ihm ins Leben gerufenen Großstadt-Dokumenten nahezu vergessen. Die Neuerscheinung gibt nun die Möglichkeit der Wiederentdeckung.
Hans Ostwald (Hrsg.: Thomas Böhm): Berlin – Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904–1908, Verlag Galiani, Berlin 2020, 416 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Berlin, Hans Ostwald, Manfred Orlick, Thomas Böhm