Nach fünfmonatiger, Corona bedingter Kinoabstinenz sollte es zum Wiedereinstieg schon etwas Besonderes sein. Zum Beispiel ein Streifen, der bereits zehn Film- und Festivalpreise gewonnen hat und darüber hinaus für vierzehn weitere immerhin nominiert wurde. Eine derart beeindruckende „Strecke“ hat „Il Traditore“ („Der Verräter“) von Marco Bellocchio vorzuweisen. Dass das Opus ganze 153 Minuten währt, wird dabei nur den stören, der grundsätzlich keine Mafia-Filme mag. (Wobei der Begriff eine Erfindung der Journalisten sei; korrekt heiße der Verein Cosa Nostra, so der Protagonist gegenüber seinem Vernehmer.) Doch auch Fans solcher Legenden spinnenden Klassiker wie „Der Pate I – III“ von Coppola, dessen Dreharbeiten von der Mafia mitfinanziert und kontrolliert worden sein sollen, oder „Goodfellas“ von Scorsese kommen bei Bellocchio schwerlich auf ihre Kosten. Zwar beginnt der Film – ganz wie der Auftakt der Coppola-Trilogie – mit einem opulenten Familienfest, in dessen Hintergrund Ränke geschmiedet werden, doch Bellocchio, so sagte er selbst, „wollte keinen ‚guten‘ Kriminellen zeigen“, und diesen Vorsatz hat er durchgehalten. Bei diesem Regisseur bleiben die Verbrecher und Mörder das, was sie sind. Und ihr Geschwätz von Ehre und Werten, von Familie und von ehrenwerten Männern, die all dies hochhalten, bleibt der hohle Kanon von Schwerkriminellen, die gleichwohl in einem solchen den Kitt für ihre – mindestens in doppeltem Wortsinne – Bande sehen.
Der Film erzählt die wahre Geschichte eines hochrangigen Mafia-Mitgliedes, des Tommaso ‚Don Masino‘ Buscetta, der nach Verhaftung in Brasilien, wo er untergetaucht war, sowie Auslieferung an Italien und nachdem eine konkurrierende Mafia-Familie zwei seiner Söhne hatte verschwinden und, wie sich später zeigt, ebenso hatte ermorden lassen wie zwölf weitere Verwandte Buscettas, zum wichtigsten Kronzeugen der italienischen Justizgeschichte avancierte. Maßgeblichen Anteil daran hatte Buscettas Vernehmer in Rom, der Richter Giovanni Falcone. Buscettas Aussagen im ersten Mammutprozess gegen die Mafia, der vom 10. Februar 1986 bis zum 16. Dezember 1987 dauerte, hatten wesentlichen Anteil daran, dass von 474 Angeklagten 344 zu insgesamt 2665 Jahren Haft verurteilt wurden. Die im Gerichtsbunker von Palermo, der für den Prozess eigens errichtet worden war, gedrehten Szenen gehören denn auch zu den eindrücklichsten des Films.
Das Zusammenspiel von italienischem Staat und Mafia, das bis in die Gründungstage der römischen Republik zurückreicht, wird von Bellocchio zwar nur gestreift, aber auf durchaus nachhaltige Weise. So lautet einer der entscheidenden Sätze in diesem Film, gesprochen von Richter Falcone: „Ich habe mehr Angst vor dem Staat als vor der Mafia.“ Gezeigt wird auch, wie Buscetta später gegen Giulio Andreotti aussagte, den siebenmaligen Ministerpräsidenten und von Mitte der 1940er bis Anfang der 1990er Jahre die graue Eminenz schlechthin der italienischen Politik. Doch mit seiner Einlassung, wonach Andreotti, dem immer wieder Kontakte zur Mafia nachgesagt worden waren, direkter Auftraggeber zweier Morde gewesen sei, kam Buscetta vor Gericht nicht durch.
Buscettas Kooperation mit der Justiz erstreckte sich auf mehrere Gerichtsprozesse. Auch folgten ihm weitere „Pentiti“ („Reuige“) aus den Reihen des organisierten Verbrechens, wodurch es den Behörden gelang, etliche Mafia-Bosse lebenslang hinter Gitter zu bringen, darunter den berüchtigten Salvatore ‚Totò‘ Riina, „Boss der Bosse“, der für über 1000 Morde verantwortlich gewesen sein soll und der sich dem Zugriff der Polizei über 15 Jahre lang durch Flucht entzogen hatte. (Genau in dieser Zeit soll es ein Zusammentreffen mit Andreotti gegeben haben.) Der Mafia ein für alle Mal den Garaus zu machen, ist allerdings nicht gelungen. Richter Falcone fiel am 23. Mai 1992 zusammen mit seiner Frau und drei Leibwächtern einem Sprengstoffattentat zum Opfer. In Auftrag gegeben hatte den Anschlag nach Aussagen mehrerer „Pentiti“ – Riina.
Buscetta, unter Zeugenschutz in den USA stehend, starb im Jahre 2000, 71-jährig, eines natürlichen Todes. Das Leben hatte für ihn, wie der Film deutlich macht, einiges an brutalen Schicksalsschlägen und lebensbedrohlichen Härten bereitgehalten. Für den Fall jedoch, dass der eine oder andere Zuschauer einen Anflug von Mitleid empfinden könnte, belegt Bellocchio ziemlich zum Schluss noch einmal, was Buscetta letzten Endes war – ein kaltblütiger Mörder.
„Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Marco Bellocchio. Derzeit in den Kinos.
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