von Kai Agthe
Ihren 75. Geburtstag am 28. Juni 2011 hätte sie, wie sie in ihrer letzten Lebenszeit oft betonte, gern im Kreis ihrer Freunde, Kollegen und Weggefährten gefeiert. Da Gisela Kraft jedoch Anfang Januar 2010 im Alter von 73 in Bad Berka starb, haben Freunde, die liebend gern mit ihr gefeiert hätten, an sie erinnert, und zwar mit einer von der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V. organisierten und am 3. und 4. Juni 2011 in der Eckermann-Buchhandlung in Weimar durchgeführten Veranstaltung. Die stand unter dem beredten Motto „Unterwegs mit einem Derwisch“. Die Figur des Derwischs tritt im lyrischen Werk Gisela Krafts, die Islamwissenschaftlerin war und aus dem Türkischen nachdichtete, wiederholt auf. So unter anderem auch im Titel ihres Gedichtbandes „Katze und Derwisch“. Dort ist auch ein Interview zu finden, das sie mit sich selbst führte. Die Antwort auf die letzte Frage, „Könnten Sie sich vorstellen, selber Derwisch zu sein?“, beantwortete sie so: „Was sonst, da ich Mensch bin.“
Die Gedenkveranstaltung war nicht nur eine Verneigung vor einer wichtigen Schriftstellerin, Nachdichterin und Wissenschaftlerin, sondern will auch ein Anstoß für die Forschung sein. Die Germanistik hat Gisela Krafts so facettenreiche Dichtung, die Romane und Erzählungen, Gedichte und Essays umfasst, bislang geradezu stiefmütterlich behandelt. Auch eingedenk dessen, was in Weimar von den acht Beiträgern referiert und in der Diskussion der Referate zum Teil leidenschaftlich diskutiert worden ist, kann das Fehlen einer wissenschaftlichen Annäherung an Gisela Krafts literarisches Werk seitens der Germanisten nur verwundern.
Die vier Referate des ersten Tages standen ganz im Zeichen der Erinnerung an die Autorin und den Menschen Gisela Kraft. Denn einerseits hat sie in ihrer letzten großen Prosa-Arbeit ihre Erinnerungen aufgezeichnet, andererseits haben die vier Kollegen und Freunde, unter ganz unterschiedlichen Auspizien, sich ihrer Zusammenarbeit mit Gisela Kraft erinnert.
Dr. Martin Straub (Jena) stellte im Eröffnungsreferat „Am anderen Ufer der Spree“ Gisela Krafts unveröffentlichte Memoiren vor, die die Zeit von 1984 bis 1989, das heißt von ihrer Übersiedlung von West- nach Ost-Berlin bis zur politischen Wende in der DDR, sowie einige Porträts umfassen. Die Ausführungen Martin Straubs waren ein Votum, „Mein Land, ein anderes – Deutsch-deutsche Erinnerungen“ als Buch erscheinen zu lassen. Umso mehr, da sich die Autorin vor ihrem Tod selbst intensiv bemüht hatte, ihren Lebensbericht in einem Verlag unterzubringen. Und um einen unmittelbaren Einblick in Gisela Krafts Erinnerungen zu geben, las Marie-Elisabeth Lüdde im späteren Verlaufe des ersten Tages drei Kapitel aus dem Memoirenmanuskript – darunter die ersten beiden Abschnitte, in denen sie minutiös von ihrer Übersiedlung in die DDR berichtet.
Prof. Dr. Dietger Pforte (Berlin) flankierte das Eröffnungsreferat mit persönlichen Erinnerungen, da er Gisela Kraft aus gemeinsamer West-Berliner Zeit kannte, ihren Werdegang auch nach ihrem Wechsel in die DDR verfolgt und im Jahr 2006 auf ihren Wunsch die Laudatio gehalten hatte, als Gisela Kraft den Weimar-Preis der Stadt Weimar erhielt. Aber nicht allein wegen ihrer Übersiedlung im Jahr 1984 stellte Dietger Pforte seine Auskünfte unter den Titel „Gisela Kraft – Die Grenzgängerin“. Denn sowohl als homo scribens als auch als homo politicus hatte die engagierte Autorin zeitlebens versucht, so Pforte, Grenzen zu überwinden und gleichzeitig die Gegensätze zu bewahren.
Erinnerungen im Umgang mit Leben und Werk referierten auch Dr. Jens-Fietje Dwars (Jena) und Matthias Biskupek (Rudolstadt). Jens-Fietje Dwars erinnerte an die dankbare, wenngleich nicht immer einfache Aufgabe, im Vorfeld ihres 70. Geburtstages zusammen mit Gisela Kraft eine Auswahl von 33 Gedichten zu treffen, die 2006, nach langem Ringen um jeden einzelnen Text, unter dem Titel „Aus Mutter Tonantzins Kochbuch“ in der von ihm im quartus-Verlag herausgegebenen, bibliophilen Ansprüchen genügenden Reihe „Edition Ornament“ erschien. Matthias Biskupek wiederum sprach über die Art und Weise, wie er sich für ein MDR-Radio-Feature, das anlässlich ihres ersten Todestages im Januar 2011 gesendet wurde, dem Leben und dem Werk der Freundin näherte. Das Featuremit reichlich O-Ton von Gisela Kraft wurde zum Abschluss des ersten Tages zu Gehör gebracht.
Die vier Beiträge des zweiten Tages widmeten sich ihren drei Novalis-Romanen sowie ihrem lyrischen Schaffen, boten aber ebenfalls persönliche Erinnerungen der Referenten an Gisela Kraft.
Wilhelm Bartsch (Halle/Saale) – der 1987 eine ebenso ausführliche wie die Poetik der Autorin genau beleuchtende Rezension zu Gisela Krafts erstem in der DDR erschienenen Gedichtband „Derwisch und Katze“ (1985) in Sinn und Form veröffentlicht hatte – betrachtete die langjährige Freundin, einen Terminus von Friedrich von Hardenberg alias Novalis aufgreifend, als „erweiterte Autorin“. Bei Novalis heißt es im 125. Fragment der „Fragmente und Studien I“ von 1799/1800: „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein.“ Wir alle sind also erweiterte Autoren, da wir durch unsere Lektüre an den Texten mitarbeiten. Es würde sich auch lohnen, so Wilhelm Bartsch, „Gisela Krafts Trilogie und den magisch-realistischen Roman ‚Die blaue Blume‘ von Penelope Fitzgerald miteinander ins Gespräch zu bringen“.
Dr. Ulrich Kaufmann (Jena), der das literarische Werk Gisela Krafts über viele Jahre als Rezensent begleitete, widmete seine Ausführungen dem 1998 erschienenen Roman „Madonnensuite“. Der bildet das an dramatis personae der Frühromantik reiche Mittelstück von Gisela Krafts Novalis-Trilogie. Voraus ging diesem Buch der Roman „Prolog zu Novalis“ (1990), und den Abschluss bildete „Planet Novalis – Ein Roman in 7 Stationen“ (2008). In seiner äußeren Gestalt ist der Text in der bei den Romantikern beliebten „offenen Form“ gehalten und inhaltlich der Versuch, eine romantische „Symphilosophie“ zu kreieren.
André Schinkel (Halle/Saale) verknüpfte in seinem so poetisch überschriebenen Beitrag „Trauerbeflaggung auf dem Katzenplaneten“ die Darstellung „der drei Arten von Liebe“ in Gisela Krafts Liebesgedichten (auch ihre 2001 unter dem Titel „Schwarz wie die Nacht ist mein Fell“ veröffentlichten Katzenverse sind Liebesgedichte!) mit bewegenden Erinnerungen an die Autorin, mit der er, Jahrgang 1972, zwanzig Jahre befreundet war. Die gemeinsame Korrespondenz begann 1991 mit einem Brief von ihm an sie. Mehr noch: Die Lektüre des 1989 als erweiterte Neuauflage erschienenen Gedichtbandes „Katze und Derwisch“ sei für ihn das literarische Initiationserlebnis gewesen und habe in ihm den Wunsch geweckt, Schriftsteller zu werden.
Prof. Dr. Marie-Elisabeth Lüdde (Weimar) rundete die Veranstaltung ab, in dem sie einen „Brief an Gisela“ vortrug. Es ist der erste und letzte Brief an die Verstorbene, mit der Marie-Elisabeth Lüdde in deren Weimarer Jahren (1997 bis 2010) eine enge Freundschaft verband.
Die Beiträge der Gedenkveranstaltung werden, in Verbindung mit unveröffentlichten Texten Gisela Krafts, in naher Zukunft als Buch erscheinen. (Gleichartige Dokumentationen wurden durch die Literarische Gesellschaft Thüringen e.V. bereits im Nachgang von Konferenzen zu Harald Gerlach, 1940-2001, und Siegfried Pitschmann, 1930-2002, 2007 und 2011 ediert.
Anstelle eines Resümees kann Wilhelm Bartsch zitiert werden, der in seinem Beitrag konstatierte: „Dies alles, und so vieles mehr, wartet noch auf Germanisten und Literaturwissenschaftler und sehr mündige Leser.“
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