Der wichtigste Satz dieses rundum lesenswerten Buches steht auf Seite 20. Da reflektiert der Autor Wolfram Elsner – ein westdeutscher Professor für Volkswirtschaftslehre vom Jahrgang 1950, mit reicher internationaler Lehr- und Wirtschaftsberatungserfahrung – sein Weltbild Mitte der 1980er Jahre. „Aus China“, sei er damals überzeugt gewesen, „würde absehbar eine bessere Welt nicht kommen“. Später jedoch, mit wachsender Neugier und neuen Erkenntniszuwächsen, habe er erkennen müssen: „In Wirklichkeit wusste ich nichts.“ Immer wieder „unterschätzt“ habe er „China und die Chinesen, ihre enormen Erfahrungen im jahrzehntelangen nationalen Befreiungskampf, ihren Willen zur Entwicklung, zu nationaler Souveränität, zum Ende der Demütigung, zu einer ihrer Größe angemessenen Bedeutung in der Welt und auch ihr gesellschaftliches System, ihre ungekannte umfassende Innovationsfähigkeit“.
Diese selbstkritische Anerkenntnis ist eine schöne Grundlage für das, was Elsner nun an Informationen, Wertungen, Diskussionen und Schlussfolgerungen vor seinen Lesern ausbreitet. Dabei weiß er genau, dass er sich auf heftig vermintes Territorium begibt. Sätze wie die, dass China Wege gehe, „die die Menschheit noch nie gegangen ist“; dass es „ein großes und unendlich viele kleine Experimente“ organisiere, Erfahrungen auswerte, aus ihnen „sehr schnell“ lerne, gegebenenfalls den Kurs ändere und „Enormes für die globalen ökologischen Gemeinschaftsgüter“ leiste, machen einen in Deutschland und auch anderswo im Westen schnell zum Außenseiter. Das gilt nicht minder für die Feststellung, dass China darauf bestehe, „seine nationale Souveränität, territoriale Unversehrtheit, Stabilität, Langfristigkeit und Planmäßigkeit, soziale Inklusion und Mobilisierung nach innen“ wie auch seine „breiten Kooperationen nach außen“ als „hohe und existenzielle Güter“ zu begreifen. Aber das ficht Elsner zum Glück nicht an. So sicher ist er sich seiner Weltkenntnis, seiner Reise- und Gesprächserfahrungen und seines umfangreichen Literatur- und Medienwissens, dass er keine Scheu hat, sich mutig ins Getümmel zu stürzen.
Es sei ja nun nicht mehr zu leugnen, meint er, dass Chinas Aufstieg „in vieler Hinsicht eine Systemherausforderung für den Westen“ sei – „historisch gesehen die zweite ernsthafte nach der Sowjetunion“ – , und erfreulicherweise gebe es im Westen durchaus „eine gewisse Bereitschaft zu friedlicher Koexistenz, friedlichem Wettbewerb und Kooperation“, aber überlagert werde diese leider von einer „zunehmenden aggressiv-feindseligen, auch zunehmend emotionalisierten Bekämpfung des Herausforderers, oft mit heimlicher, neidvoller Anerkennung und eher heimlichem Wunsch nach Imitieren, meist angstmotiviert, offen konfliktorientiert und mit zunehmend verbal-kriegerischen Bedrohungs-, Angst- und Verleumdungsnarrativen“. Im „vorherrschenden Meinungs- und Gesinnungs-Markt“ stehe „nicht […] ‚China verstehen wollen‘“ im Fokus, „sondern das ‚Wir‘, das Zusammenscharen und Formieren der eigenen Gesellschaft unter den Bedingungen einer neuen Nummer eins.“ Dabei gehe es „meist ganz banal um bloßen strukturkonservativen Erhalt der Positionen und Privilegien des Exportweltmeisters in einem imaginierten entscheidenden und finalen Endkampf um den Platz an der Sonne“. Aber was heiße da schon „banal“: Diese „Denkweise“ kenne man bereits „aus dem Vorlauf zum Ersten Weltkrieg, wo der spätere Reichskanzler von Bülow im Reichstag 1897 das Ziel der deutschen Kolonialpolitik mit diesem ‚Platz an der Sonne‘ begründete“, und das sei dann „zur Metapher und Leitfigur des nachholenden deutschen Weltmachtstrebens“ geworden und habe „entscheidend zum Ersten Weltkrieg“ geführt.
Elsner schreibt lebendig, kämpferisch und geht keiner Debatte aus dem Weg. In den Kapiteln „Ja, aber Hongkong …“, „Ja, aber die Uiguren …“ und einem Nachtrag Anfang 2020 „Ja, aber das Coronavirus …“ nimmt er sich die drei großen „Ja, aber“-Stereotype vor, und da geht es zum Beispiel im Hongkong-Abschnitt nicht nur um die Frage nach der „plötzlichen und keineswegs mehr nur klammheimlichen Begeisterung der westlichen Medien für Gewalt- und Zerstörungsorgien kleiner, gut organisierter und ausgerüsteter Gruppen, wie sie so in Deutschland selbst keinen Tag lang geduldet würden“, sondern auch um das Hongkonger Arbeitsrecht als „eines der arbeitnehmerfeindlichsten der Welt, unter dem normal arbeitende Menschen faktisch noch immer im Kolonialstatus des frühen 20. Jahrhunderts verharren“, während das chinesische Arbeitsrecht von der ILO – der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO – als „eines der fortschrittlichsten der Welt“ gelobt wird.
Hier wie überall im Buch wird deutlich, wie umfassend Elsner das Internet durchforstet und nutzt. Es ist für ihn der entscheidende Unterschied zu den achtziger Jahren. Damals habe noch „das faktische Monopol einer Einheits-Gesinnungspresse“ bestanden; heute hingegen werde dieses Monopol gebrochen durch jenen „kritischen, nachprüfenden, tatsächlich und exakt recherchierenden“ und „investigativen“ Journalismus, der „im Internet zu allen brisanten Themen leicht auffindbar“ sei. Und so zitiert er etwa von www.globalreserach.ca den „kritischen Beobachter“ Peter Koenig mit dessen sarkastischem Kommentar, wonach der Westen mit seiner „finanziellen und materiellen Unterstützung der gewaltsamen Proteste“ nichts anderes erreiche, als „Hongkongs Fähigkeit [zu untergraben], dem Westen weiterhin als Geldwäscherei zu dienen“.
Seinen kämpferischen Ton hält Elsner in allen Kapiteln durch. „Oje, Planwirtschaft!“, „Oje, Wirtschaft und Geld!“, „Oje, Staatseigentum!“, „Nur arme Schlucker und Milliardäre!“, „Alles Arbeitssklaven!“, „Arme Bauerndörfer und Monsterstädte!“, „Größter Umweltverschmutzer!“, „Neuerfindung der Diktatur!“, „Lager für Minderheiten und Polizeistaat!“, „Neuer Imperialismus!“ – das sind die Überschriften der die Klischees dekonstruierenden ausführlichen Darstellung der chinesischen Verhältnisse.
„Wenn ein Land“ – so resümiert Elsner – „die Quadratur all dieser Kreise, vor denen alle Länder heute global stehen – Wohlstand und Stabilität bei Inklusion, gerechter Verteilung und Sicherung der Ökologie der Erde – bewältigen und so die ältesten Menschheitsträume realisieren kann, dann, so sieht es heute aus, hat China hier sehr gute Karten. Und wir noch nicht.“ Worauf er dringendst zur friedlichen Zusammenarbeit mahnt. Und zur „kritischen Solidarität“. Denn: „Alleingelassen“ würde China wohl „scheitern“. Das habe das Land erkannt, und deshalb gehe es „in die Welt mit seinen neuen Ideen und Vernetzungen“. Womit auch „einiges von dem gerettet werden“ könne, „wofür unsere Fridays-for-Future-Kids heute auf die Straße gehen“.
Spiegel-Redakteur Stefan Schultz sieht das am 19. April in seinem online zu findenden Bericht über den wachsenden Einfluss Chinas in der Weltgesundheitsorganisation WHO genau entgegengesetzt: Es sei „womöglich gefährlich, dass China so viel Macht über internationale Organisationen gewonnen hat. Gefährlich für jeden einzelnen Menschen auf diesem Planeten.“
Ein Grund mehr, Elsner zu lesen.
Wolfram Elsner: Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders, Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2020, 384 Seiten, 24,00 Euro.
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