23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

„Corona-Leugner“

von Hannes Herbst

Eines der Neuwörter in der aktuellen Kommunikationskakophonie um Corona, denen gerade Hochkonjunktur widerfährt, ist zweifelsfrei und an prominenter Stelle im Ranking – der „Corona-Leugner“. Häufig gebraucht als offenbar nicht weiter zu hinterfragendes Pauschalverdikt – so auch im Blättchen-Forum.

Ins Detail ging dieser Tage der Sender ntv, wobei die Botschaft schon in der Überschrift klar formuliert war: „So gefährlich sind die Corona-Leugner“. In dem betreffenden Beitrag hieß es unter anderem: „Die Corona-Verschwörungstheoretiker glauben teilweise an durchaus krude und bizarre Hintergründe zur Pandemie. Einiges davon erscheint nicht weniger absurd als Theorien, wonach die Erde flach ist, hohl oder eigentlich von Reptilien regiert wird. Die […] Corona-Leugner […] streiten […] ab, dass der Erreger tatsächlich so gefährlich ist. Daher ist es naheliegend, dass sie auch Maßnahmen zur Nichtverbreitung weniger ernst nehmen. Zudem haben all jene, die behaupten, die Kosten stünden bei der Pandemie-Bekämpfung in keiner Relation zur eigentlichen Gefahr, eine wachsende Unterstützerzahl bis hinein in die großen Volksparteien. Das macht diese Gruppe letztlich gefährlicher für alle.“

Der Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer brachte seine diesbezüglichen Beobachtungen folgendermaßen auf den Punkt: „Es gibt schon ein neues Wort für Leute, die zu viel Freiheit auf einmal verlangen. Man spricht von Corona-Leugnern. Niemand bestreitet die Existenz des Virus, nicht einmal der Corona-Leugner. Das ist mit dem Wort auch nicht gemeint. Gemeint sind Leute, die im Kopf Party machen, indem sie die Zahlen der Regierung in Zweifel ziehen. Oder auf Widersprüche in der Argumentation hinweisen. Oder wie die Schriftstellerin Juli Zeh die Einhaltung von Verfassungsrechten anmahnen.“

Juli Zeh ohne Weiteres an die Seite gesellen lässt sich gewiss die Blättchen-Autorin Gabriele Muthesius. Sie hat in drei Beiträgen für die NachDenkSeiten zum Beispiel die Infektionsletalität (Sterblichkeitsrate bezogen auf die Gesamtzahl der ermittelten Infizierten in einer Population) des derzeit umgehenden Corona-Virus Sars-CoV-2 aufgegriffen. Diese Kennziffer ist von einem Team um den Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, Professor Hendrik Streeck, durch Feldforschung am ersten deutschen Corona-Hotspot in NRW ermittelt worden – mit 0,37 Prozent. Der Wert ergibt sich aus dem Verhältnis der positiv auf Corona Getesteten plus Dunkelziffer (deren Aufdeckung Streecks Feldforschung zum Ziel hatte) zu den Corona zugeordneten Todesfällen. An Streecks Prozentzahl hatte auch der prominenteste Corona-Berater der Bundesregierung, Professor Christian Drosten, Chef des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, nichts auszusetzen. Muthesius aber griff in diesem Zusammenhang gleich auch noch auf den Hamburger Rechtsmediziner Professor Klaus Püschel zurück, der seine Obduktionsergebnisse an Corona-Toten folgendermaßen zusammenfasste: „[…] bei uns sind die Verstorbenen alle multimorbide, und sie sind in der Regel alle schon im höheren Alter“. Und: Bei diesen Menschen sei „das Virus sozusagen der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte“.

Vor allem jedoch zitierte Muthesius Püschels Bewertung der Pandemie: „Corona ist eine vergleichsweise harmlose Viruserkrankung. Wir müssen uns damit beschäftigten, dass Corona eine normale Infektion ist, und wir müssen lernen, damit zu leben, und zwar ohne Quarantäne.“

Corona-Verleugnung? Oder wenigstens Herstellung eines falschen Zusammenhanges?

Gegen Muthesius auch ins Feld geführt worden ist, dass eine in Deutschland ermittelte durchschnittliche Mortalitätsrate keinen Aussagewert für die Einschätzung der Gefährlichkeit des aktuellen Virus habe – angesichts des Zusammenbruchs der lokalen Gesundheitssysteme in anderen Ländern und Regionen der Welt.

Diese Argumentation mag plausibel klingen, enthält gleichwohl jedoch einen gravierenden Denkfehler, denn sie vergleicht Äpfel mit Birnen: die Gefährlichkeit des neuen Corona-Virus als Krankheitserreger und den Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens in Italien, Spanien, USA. Letzterem ist mit einem Shutdown, wie er in Deutschland und anderswo verhängt wurde, nicht beizukommen. Andererseits bringt ein anhaltender Shutdown die betroffene Gesellschaft an den Rand eines Kollapses. Aus Muthesius‘ Beiträgen ist meines Erachtens daher zu schlussfolgern, dass dann, wenn die Therapie schlimmer ist, als es der Erreger rechtfertigt, etwas grundsätzlich schiefläuft.

Corona-Verleugnung? Oder zumindest unmoralisch?

„Wer abwägt oder nach der Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahmen fragt, setzt sich dem Vorwurf aus, es mit der Moral nicht so genau zu nehmen. Er wolle wohl Wirtschaftsdaten gegen Menschenleben aufrechnen, heißt es dann.“ So Jan Fleischhauer. Vielleicht jedoch darf letzterem Totschlagsargument zumindest entgegengehalten werden, dass das Bruttosozialprodukt von heute die Grundlage für die Pandemieeffizienz des öffentlichen Gesundheitswesens von morgen ist. So wie übrigens das „Gesundschrumpfen“ dieses Gesundheitswesens in Italien, Spanien, den USA und anderswo gestern eine entscheidende Ursache der Häufung an Corona-Toten von heute ist.

Apropos Corona-Tote: Zu denen hat Muthesius deren vom Robert-Koch-Institut ausgewiesenen Altersmedian (Durchschnittsalter) von 82 Jahren mit der evidenzbasierten Feststellung von Professor Püschel „gekreuzt“, dass er bei seinen Obduktionen von mutmaßlichen Coronatoten keinen einzigen ohne multiples Vorgeschehen (O-Ton Püschel: „[…] schwerwiegende Erkrankungen der Lunge, schwerwiegende Herzerkrankungen, aber auch Erkrankungen anderer Organsysteme, zum Teil Krebserkrankungen […]. Also alles Erkrankungen, die zum Einen die Abwehrkraft in Bezug auf die Kompensation bei zusätzlichen Belastungen schwächen, und die mit einer Schwäche des Immunsystems zusammenhängen.“) gefunden habe. Daraus lässt sich ableiten, dass Hochaltrige mit multiplen Vorerkrankungen hinsichtlich Sars-CoV-2 eine Hochrisikogruppe bilden und dass dies für anderen Altersgruppen (zumal ohne schwerwiegende Vorerkrankungen) so offenbar nicht gilt.

Corona-Verleugnung?

Und eine Feststellung wie die der Rechtsanwältin Jessica Hamed: „Risikogruppen haben nichts davon, wenn alle (gleich: die gesamte Gesellschaft – G.M.) ‚weggesperrt‘ werden“?

Gefährlicher Nonsens?

Dafür NRW-Ministerpräsident Laschets strikte Ablehnung, nur Risikogruppen unter Quarantäne zu stellen (O-Ton: „Wir dürfen keine Spaltung zwischen Alt und Jung erzeugen. Alle Maßnahmen gelten für alle. Die ganze Gesellschaft geht diesen Weg, nicht nur eine Gruppe.“) – genau das richtige Herangehen?

Schon solche Fragen zu stellen provoziert derzeit jedoch selbsternannte Corona- – oder sagen wir besser gleich Sittenwächter – zu scharfen Repliken, wobei nicht selten Anklage, Urteilsspruch und persönliche Verunglimpfung im selben Atemzuge erfolgen.

Besonders übel traf dies zum Beispiel Wolfgang Wodarg, Internist und Lungenarzt, Gesundheitswissenschaftler und ehemaliger Politiker der SPD, der dem anschwellenden Corona-Tsunami schon früh kritisch entgegengetreten war. Er wurde in den Medien regelrecht zum Buhmann gehypt: Er sei „ein altbekannter Querulant“ und „pseudowissenschaftlicher Aufreger“ (Berliner Zeitung), operiere „mit wirren Behauptungen“ (Focus), komme daher wie „Bildungsfernsehen der 1970er“ (DIE WELT), verbreite „Desinformation“ (Monitor). Schweres Kaliber auch bei SPIEGEL Wissenschaft: „Wenn Unsinn die Runde macht, sind Journalisten in der Zwickmühle. Sollen sie die Falschinformation richtigstellen, und dem Urheber damit eine Plattform bieten? Oder sollen sie den Quatsch einfach ignorieren? Im Fall von Wolfgang Wodarg ist Letzteres leider keine Option mehr.“

Einzigartig stillos und unter die Gürtellinie langten ausgerechnet die Kabarettisten Claus von Wagner und Max Uthoff hin – am 24. März 2020 in der 50. Ausstrahlung des ZDF-Magazins „Die Anstalt“, dem bisher hoch zu schätzenden politsatirischen Flaggschiff des deutschen Fernsehens. Erst rieben sie Wodarg in bester Stammtischmanier seine Frisur unter die Nase, um ihm anschließend jegliche Sachkompetenz abzusprechen – schließlich habe er „nie dazu geforscht“.

In ihrem Anti-Wodarg-Furor übersahen die Kabarettisten allerdings eine Kleinigkeit: Legte man nämlich das Kriterium nie dazu geforscht zugrunde, dann müsste „Die Anstalt“ eigentlich längst dichtgemacht sein, denn von Wagner und Uthoff samt ihren wechselnden Gästen äußern sich praktisch in Permanenz zu Problemen und Themen, zu denen sie nie geforscht haben.

Aber Gottseidank genügt es ja häufig, um einen Sachverhalt fundiert darstellen und einen begründeten Standpunkt dazu vertreten zu können, dass man professionell recherchiert, also nachgeforscht hat.

P.S.: Die betreffende „Anstalt“ kann in der ZDF-Mediathek aufgerufen werden; die hier aufgegriffene Passage findet sich etwa ab Minute 31:08.