23. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2020

Seelenkrüppel

von Jörn Schütrumpf

Die Furcht vor jedem wie auch immer gearteten Widerstand hat die Nationalsozialisten bis zum Ende nie verlassen, deshalb bauten sie ihre Terrormaschinerie immer weiter aus. Setzten sie in der ersten Phase, als sie den Widerstand stärker wähnten, als er war, auf die Zerschlagung von Netzwerken, gingen sie ab Mitte der dreißiger Jahre immer mehr dazu über, Widerstandsgruppen mit V-Leuten zu durchsetzen, so zu kontrollieren und erst dann zu zerschlagen, wenn sie ganz erkundet waren oder wenn diese Gruppen sich für die eigenen Zwecke nicht (mehr) als verwendbar erwiesen.

Nach dem Hitler-Stalin-Pakt (23. August 1939) und endgültig nach dem Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag (28. September 1939) sahen die Kommunisten, die den aktivsten Teil des Widerstands stellten, sich durch ihre eigene Partei gezwungen, ganz ihre Tätigkeit einzustellen. Zwar wurden nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 neue Strukturen aufgebaut, doch die Widerstandskämpfer mussten sich auch weiterhin wie in Feindesland bewegen, verfügten sie doch in der Bevölkerung kaum über belastbare Verankerungen.

Dieses Schicksal teilten sie mit allen anderen Widerstandskämpfern, ob die nun Einzelkämpfer wie Georg Elser oder in Gruppen organisiert waren wie die legendenumwobene „Rote Kapelle“, die „Weiße Rose“, der „Kreisauer Kreis“ oder die Hitlerattentäter vom 20. Juli 1944. Viele der Aktivisten endeten auf dem Schafott.

Diese Menschen hatten ihr Recht auf ein menschenwürdiges Dasein verteidigt und dafür den höchsten Preis gezahlt. Trotzdem entkamen diese Toten nach dem Krieg nicht dem Schicksal, vereinnahmt zu werden: In der links-nationalistischen Mottenkiste wurden viele von ihnen zu Helden umgeschminkt, die Deutschlands Ehre verteidigt hätten – als ob es eine überindividuelle Ehre geben könnte, und dann auch noch ausgerechnet eine Ehre Deutschlands.

Auch wenn die meisten von ihnen nie den Bestand der NS-Herrschaft hatten gefährden können, vermittelte ihr Tod doch sowohl der deutschen Bevölkerung als auch den heranrückenden Alliierten ein klares Signal: Nach dem Krieg würden die überlebenden Kräfte des Widerstands und die, die sich auf ihn berufen konnten, als einzige politische Gruppen berechtigte Ansprüche auf die politische Macht geltend machen können.

In den ersten Jahren des Krieges, als von Sieg zu Sieg geeilt wurde, erlebten viele deutsche Soldaten die Wehrmacht als Dampfer auf großer Butterfahrt, die ihnen gestattete, ihre Frauen und Freundinnen mit Dingen zu verwöhnen, die sie sich sonst nicht nur nie hätten leisten können, sondern von denen sie oft nicht einmal wussten, dass es sie gab – Brecht hat in seinem „Soldatenweib“ diese „Aufstiegserfahrungen“ kongenial nachfühlbar gemacht:

Und was bekam des Soldaten Weib
Aus der alten Hauptstadt Prag?
Aus Prag bekam sie die Stöckelschuh.
Einen Gruß und dazu die Stöckelschuh […]

Und was bekam des Soldaten Weib
Aus der Lichterstadt Paris?
Aus Paris bekam sie das seidene Kleid.
Zu der Nachbarin Neid das seidene Kleid
Das bekam sie aus Paris.
[…]

Die Nationalsozialisten verstanden es, Situationen zu schaffen, die vielen Deutschen die Möglichkeit boten, sich als „Herrenmenschen“ zu erleben: Sei es gegenüber jüdischen Nachbarn, deren Eigentum anzueignen als ein Vorrecht oft geradezu genossen wurde und an das zu erinnern in den sechziger und siebziger Jahren so manchen Abendbrottisch in indigniertes Schweigen verfallen ließ. Sei es als Besatzer in Frankreich, vornehmlich in Paris, aber auch im Goldenen Prag oder im hellenistischen Athen – die Deutschen bekamen stets von allem das Beste, und das auch noch für wenig oder gar kein Geld. Oder sei es als Angehörige der SS oder auch der Wehrmacht bei der Partisanenjagd in Weißrussland und in der Ukraine, wo die Zivilbevölkerung zu Zehntausenden abgeschlachtet wurde. Nach dem Wechselbad der Gefühle während der Weimarer Republik waren die Deutschen wieder oben und wussten sich eins mit dem NS-Staat. Politik schien sich auszuzahlen. Dass sie einmal zur Verantwortung gezogen werden würden, glaubte niemand.

Und als die Ahnung doch Raum zu greifen begann, dass es einmal andersherum kommen könne, retteten sich viele in Zynismus: Genieße den Krieg, denn der Friede wird furchtbar. Nichts hielt das NS-Regime in seiner Agonie so aufrecht, wie das Wissen großer Teile der Bevölkerung um das eigene Mittun an den NS-Verbrechen, sei es an den Juden, sei es an Zwangsarbeitern, sei es an politisch Unangepassten, und um das, was an der Ostfront, in den Vernichtungslagern und in den Psychiatrien geschehen war. Da es sich jedoch oft nur um Gerüchte beziehungsweise um die Plaudereien angetrunkener Heimaturlauber handelte, war es ein hinterher nicht nachweisbares Wissen.

Zusätzlich stabilisierend wirkte die Kriegszielpolitik der Alliierten: bedingungslose Kapitulation und eine vollständige Besetzung Deutschlands. Gegen diese Perspektive erschien die Fortdauer des Regimes als deutlich erträglicher. Jeder Widerstand gegen das NS-Regime ebnete nur den Alliierten den Weg – es existierte keine innerdeutsche Alternative.

Die Spaltung in einen öffentlichen und einen privaten Menschen, die Europa in dieser Reinheit erst die Reformation beschert hatte, war unter den Bedingungen der Diktatur natürlich vertieft worden, wobei das Regime während des Krieges immer tiefer in die Privatheit vordrang und die meisten Deutschen zwang, die Kunst der Verstellung bis zur Perfektion zu erlernen: Wer sich aus Unachtsamkeit zu erkennen gab, gefährdete sich und andere – und zwar existentiell. In diesem Zuge starb der deutsche Untertan – wobei es sich um eine besonders krude Form der nachholenden Emanzipation handelte. Je stärker das Regime, Krieg und Kriegsfolgen über ihn hereinbrachen, desto brutaler verloren sich alle überkommenen Bande – Herkunft, Stand, Staat, selbst die Religion büßte viel von ihrer Trostfähigkeit ein und wurde zu etwas Äußerlichem. Ausgerechnet in der scheinbar wärmenden nationalsozialistischen „Masse Mensch“ sah sich der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen. Er wurde in die Trostlosigkeit der Einsamkeit so sehr gestürzt, dass ihm Ausweichen vor sich selbst unmöglich wurde. Entweder er zerbrach, was vielen geschah – wobei die Frauen, nicht nur weil ihnen die Verantwortung für die Kinder aufgebürdet war, sich als deutlich lebensfähiger erwiesen –, oder aber er stellte sich der letzten Herausforderung: also der Verantwortung für sich selbst. Emanzipation in der brutalst denkbaren Variante; nicht wie die im bürgerlichen 18. und 19. Jahrhundert als Gruppen-, Befreiungs- und oft auch Erweckungserlebnis, sondern als erzwungene Übernahme aller Verantwortung für das eigene Dasein, eine Emanzipation wider Willen.

Da nicht einmal die – die bürgerliche Emanzipation begleitende – marktinduzierte offene Konkurrenz zwischen den Individuen zugelassen war – der verordnete Kollektivismus der Volksgemeinschaft verhinderte sie –, wurde selbst diese sehr entfremdete Form des Austausches unmöglich.

Statt dessen produzierte die für totalitäre Regime charakteristische Verlassenheit des Einzelnen, herbeigezwungen durch die Angst eines Jeden vor Jedem, einen zwar emanzipierten, aber alles andere als angenehmen Menschentypus: tief misstrauisch, wenn auch nicht unbedingt missgünstig; bis in die Ohnmacht berechnend und deshalb zur offenen Auseinandersetzung unfähig; stets den Dolch im Gewande führend und trotzdem vor der eigenen Heimtücke zurückschreckend, zu kollektivem Handeln nur noch in äußerster Not bereit und gemeinsam zu verfolgender positiver, gar sozialistischer Ziele zutiefst entfremdet – zugleich leistungsfähig und bis zur Selbstaufgabe leistungsbereit; jeder Ideologie abhold, dafür jeder Ablenkung zugetan; geradezu liebessüchtig, aber tief beziehungsgestört. Das waren die Ingredienzien, die den deutschen Nachkriegsmenschen ausmachen sollten – Seelenkrüppel.

Lediglich die Familien schienen zusammenzurücken – doch nur im Sinne von Notgemeinschaften, nicht emotional; auch in ihnen blieb der Einzelne einsam; eine Einsamkeit, die mit einer unbestimmten, dafür um so unstillbareren Sehnsucht nach einem anderen, in jedem Falle „besseren“ Leben gepaart war.

Je weiter das Morden in Uniform alle Skrupel verbrannte, desto enthemmter wurde geraubt, gemordet, gefoltert. Am Ende des Krieges war Auschwitz überall, denn es hatte sich in den Köpfen festgesetzt: Als auf dem Bahnhof Schwerin bei der Bekanntgabe von Hitlers Tod eine junge Frau „Gott sei Dank“ murmelte, wurde sie bei der Feldgendarmerie denunziert und vor aller Augen auf dem Bahnsteig erhängt. Niemand schritt ein, das war in diesen Tagen kein Einzelfall.

Hinterher lauteten die beiden deutschen Standardsätze, dass 1. niemand etwas gewusst und 2. Befehlsnotstand geherrscht habe. Die Verantwortungslosigkeit für das eigene Tun wurde so in die Nachkriegszeit gerettet und dort umgeschmolzen: in die Auffassung, sich künftig im Zweifel nicht auf welche Politik auch immer einzulassen.

In ihrer Mehrheit waren die Deutschen ins NS-Reich apathisch, aber hoch politisiert und kapitalismusmüde eingezogen – aus ihm zogen sie wiederum apathisch, aber von jeder Politik desillusioniert. Dazwischen hatten sie in der „Volksgemeinschaft“ den Untertanen abgestreift, nicht wenige als „Herrenmenschen“ – und waren dann einer kollektiven Amnesie verfallen. In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 verschwand der „Herrenmensch“ unter den Mitläufern und deklarierte sich zum Opfer der Sieger, das sich nun, in West wie Ost, in einem konkurrierenden Wiederaufbau eine etwas friedfertigere Selbstverwirklichung suchte – mit der gleichen Wucht, mit der er Europa unterjocht hatte. Den Juden konnten diese Deutschen – so eines der zustimmungsfähigen Bonmots von Henryk M. Broder – in der Folgezeit nur eines nicht verzeihen: Auschwitz.