23. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2020

Das Veilchen und die Turteltaube

von Renate Hoffmann

Frühlingszeit. Endlich drängen die Kleinen, Bescheidenen ans Licht und erfreuen die Sinne.

„Komm, lieber Mai, und mache / die Bäume wieder grün, / und lass mir auf dem Dache (an dem Bache!) / die kleinen Veilchen blüh’n! Wie möcht’ ich doch so gerne / ein Blümchen wieder seh’n! / Ach, lieber Mai, wie gerne / einmal spazieren geh’n …“ Christian Adolph Overbeck (1755–1821) schrieb es. Wolfgang Amadeus Mozart gefiel es. Sogleich fand er eine heitere Melodie, die sich den Gedichtzeilen geschwisterlich fügte. Das verwundert nicht, denn vor kurzem erst hatte W. A. M. das Klavierkonzert Nr. 27 KV 595 vollendet, und das leichte, beschwingte Refrainthema aus dem Rondo schien ihm wie geschaffen für Overbecks „An den Mai“ (KV 596).

Jahre davor vertonte Mozart, der Klangzauberer, bereits „Das Veilchen“ von Goethe (KV 476). Beide Male wählte er für das zarte Pflänzchen eine Dur-Tonart, anmutig und fröhlich, der Besungenen angemessen. – Man sagt der kleinen, kurzstängeligen Viola große Bedeutung nach. Sie stehe für Bescheidenheit, Treue, Liebe, für den Frühling, für Mäßigung, Beständigkeit und Reinheit. – Die Maler gaben das sittsame Veilchen ihren Madonnen in die Hand. Und Albrecht Dürer (traditionelle Zuschreibung) band der zierlichen Schönen einen nie welkenden Strauß.

Was Treue und Liebe anbetrifft, so fand Heinrich Heine seine persönliche Auslegung. „Morgens send ich dir die Veilchen, / Die ich früh im Wald gefunden, / Und des Abends bring ich Rosen, / Die ich brach in Dämmrungsstunden. / Weißt du, was die hübschen Blumen / Dir Verblümtes sagen möchten? / Treu sein sollst du mir am Tage / Und mich lieben in den Nächten.“

Die Heilkunst nahm sich der kleinen Bescheidenen an. Nicht ihres Wohlgeruchs wegen, oder wegen der leuchtenden Farben in Dunkelviolett, Hellblau, Gelb und Weiß. Man versuchte es, dem Veilchen die innewohnenden wirksamen Kräfte zu entlocken. Es gelang wohl auch. Hildegard von Bingen (1098–1179) empfahl, das Blümchen in toto als Elixier, Salbe oder Sud und Sirup zu verwenden, und gegen überanstrengte Augen, Bronchitis, Kopfschmerzen und Melancholie einzusetzen. – Ich empfehle stadtspezifische Veilchenpastillen aus Madrid – sehr genussvoll.

Das Märzveilchen, wie sein Zweitname lautet, machte einstens Mode. Es schmückte die Damen verführerisch am Dekolleté und die Herren mit einem Sträußchen aus Violen am Aufschlag ihres Jacketts. – Man erzählt, Josephine de Beauharnais habe einen Veilchenkranz im Haar getragen, als Napoleon Bonaparte sich in sie verliebte. Dabei tat auch die Viole ihren zugewiesenen Dienst. Sie gilt nämlich als „Blume der jungen Liebe“. – Aus der großen Familie der Violaceae wächst eine sehr seltene Art auf der Insel Korsika: Viola corsica. Eigentlich hätte sie doch Viola napoleonensis getauft werden müssen.

Die Zentren der vielen Arten liegen in Nordamerika, Japan und in den Anden. Das Zentrum des Duftveilchens (Viola odorata) allerdings liegt in meinem Garten. – Achtung! Wer fälschlicherweise an einem Hundsveilchen (Viola canina) riecht, dem blühen viele Sommersprossen.

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Mancher sagt zu seiner Liebsten: Mein Täubchen. Das hat seine Berechtigung. Nur die Turteltaube kann damit gemeint sein. Und der Vergleich mit ihr ist eine Geste der Zärtlichkeit. Er ist ein außergewöhnlicher Vogel unter den heimischen Wildtauben und bürgt für Treue und Liebe ein Leben lang (darin beweisen die Kleinen ihre Größe). Auch ist er der Kleinste seiner Art. Scheu, schlank, in buntem Gefieder, friedliebend, der Hoffnung zugetan und mit zartem Gesang.

Das Turteltäubchen ist der einzige Zugvogel in der Taubenfamilie. Im Herbst verlässt es Europa und fliegt mit einer Geschwindigkeit von bis zu sechzig Stundenkilometern nach Afrika. Über Land und Meer und Sandwüsten. Im Bereich der Wüsten geschieht der Flug zumeist des Nachts. Aber im Lenz, wenn Veilchen und Adonisröschen erwacht sind, kehrt es zurück in seine Brutgebiete. Im Tagflug!

Verblüffend schön ist das pastellfarbene Turteltaubenfederkleid. Ein wenig Schwarz, ein wenig heller Kupferton, gedämpftes Blaugrau, rosa eingefärbt. Und ein Krägelchen rechts und links am Halse, schwarz-weiß gestreift. All diese vorzüglichen Eigenschaften verhalfen der Turteltaube (Streptopelia turtur) dazu, Vogel des Jahres 2020 zu werden.

Man sieht sie kaum. Ihre Verstecke sucht sie in lichten Wäldern mit Unterwuchs und in großen, dichten Hecken. Doch man hört das Täubchen: Turr-turr-turr. Ein leiser, zarter Ruf, etwas eintönig und schüchtern, wie es seinem Taubenwesen geziemt. Es ist das Zärtlichtun, das „Turteln“. Wer es auf einem Spaziergang vernimmt, der darf gewiss sein, die Tauben sind von der großen Reise zurück, und der Frühling ist endgültig eingekehrt. – Den Jubel darüber schildert das Hohe Lied Salomonis (Altes Testament, Ausgabe Dresden und Leipzig 1702):

„Stehe auff / meine Freundin / meine Schöne / und komme her. / Denn siehe / der Winter ist vergangen / der Regen ist weg und dahin. / Die Blumen sind hervor kommen im Lande / der Lenz ist herbey kommen / und die Turteltaube lässet sich hören in unserm Lande …“