Er sei auf Stimmung aus und kein Grundriss-Ästhet, bemerkte der freundlich-verschmitzt dreinschauende Herr vor einiger Zeit. Das war weit vor dem achtzigsten Geburtstag von Volker Pfüller, dem kürzlich in Berlin die Akademie der Künste, das Deutsche Theater und der Verlag Theater der Zeit eine launige Feier ausrichteten; leider im dafür viel zu kleinen DT-Rangfoyer – viel Volks musste draußen bleiben. Denn die Gemeinde seiner Freunde und Verehrer ist riesig. Pfüller ist ein Meister seines Fachs – ist eine Berühmtheit, die das ganze Theater hätte gefüllt. Wie konnte man das nur so unterschätzen … – Der sanfte Jubilar lächelte den Ärger melancholisch weg.
Doch was heißt hier „Pfüllers Fach“! Schließlich wirkte er auf sehr vielen Bühnen: Auf den ganz kleinen zwischen zwei Buchdeckeln, den ganz vielen auf den Litfaßsäulen (als es diese noch gab und das Geld für Kulturplakate), den ganz großen der Oper, den ganz berühmten deutscher Schauspielhäuser – den Münchner Kammerspielen, der Berliner Volksbühne, dem Schiller Theater, dem Thalia Hamburg und, natürlich, seinem Heimathaus, dem DT.
Pfüller, geboren in Leipzig, aufgewachsen im Erzgebirge, doch längst ein Berliner, ist Gebrauchsgrafiker, Gebrauchsdichter, Illustrator, Kostüm- und Bühnenbildner, Maler und Zeichner – das alles eigentlich immer zugleich. Er war Lehrer an den Kunsthochschulen in Leipzig, Kassel und Berlin-Weißensee. Dort trafen wir, schon etliche Jahre her, den Bühnenbild-Professor bei der Arbeit mit Studenten beim Fantasiespiel zum Thema „Der Stuhl“.
Das Sitzmöbel im Wandel der Formen und Materialien als Spielzeug, Skulptur, philosophischer Scherzartikel, als Akteur eines Comics, Videoclips oder einer Performance. Eine so erstaunliche wie lehrreiche Spinnstunde. Schließlich fuße ein Bühnenbild, so der Prof., auf visueller und auf technischer Fantasie. Es müsse etwas darstellen und zugleich, rein konstruktiv gesehen, perfekt funktionieren.
Damals, in den 1990er Jahren, wurde noch heftig gestritten (oder ist das noch heute so?) über die Unterschiede künstlerischer Ausbildung in Ost und West. Im Schauspiel galt, so die Vorurteile, die Busch-Hochschule als Drill-Anstalt, die West-Hochschule als gruppentherapeutisches Institut. Pfüller hält tapfer den althergebrachten DDR-Akademismus in dem Sinne hoch, als er handwerkliche Perfektion vermittle. „Die soll man nicht geringschätzen, aber auch nicht als allein seligmachend hochschrauben.“ Und wenn Westkollegen lästerten, dass ein nach der akademischen Tippeltappeltour durchgezogenes Seminar ein Ausdruck von ostdeutscher Kampfgruppenmentalität sei, konterte er gelassen, dass Studenten im Freiflug sich nur ausnahmsweise in die Gefilde des Genialen verirrten. Zur Kreativität gehöre halt die Beherrschung des Artistischen, des Erlernbaren und, ganz wichtig: Routine. Derlei sei, bei allem in Aufnahmeprüfungen getesteten Talent, ohne Lehre und Lehrer im Alleingang kaum erreichbar. Punkt.
Und wie passt das zur eingangs zitierten „Stimmung“? Also doch Intention, Genie, Eingebung zuerst? – Pfüller: Stimmung habe nichts mit Sentimentalität zu tun. Vor Beginn der Arbeit (ob am Bühnenbild, am Plakat oder an einer Illustration), also noch vor der ersten Absprache über das Konzept des Regisseurs (wir bleiben im Theater), habe er sinniert, welche Farbe, welcher Raum dem Klang und Geist des Stücks, seinem Klima, seiner Aura grundsätzlich entspräche. Es gilt die Regel: „Das Stimmungsvolle eines Bühnenbildes ist dann stimmig, wenn es zugleich der poetische Ausdruck des Stücks ist.“
Zum Beispiel Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“ 1984 im DT (Regie: Lang). Da fiel ihm beim Kramen in Fächern die Fraenger-Monographie über Grünwald in die Hände. Sie gab die optische Initialzündung für ein giftig glühendes Farbspektrum. Dazu der weite höhlige Raum, die glatten kalten fjordischen Felsen.
Übrigens, die Partnerschaften am DT mit Alexander Lang (unter anderem „Trilogie der Leidenschaften“, „Danton“, „Dreigroschenoper“) und später an den Münchner Kammerspielen mit Hans-Joachim Ruckhäberle gehörten zu einer der wohl fruchtbarsten unserer jüngeren Theatergeschichte.
Oder Rossinis „Barbier“, Stuttgarter Oper 1993: Da gaben die absurd verschachtelten Treppenkonstruktionen eines M.C. Escher die Grundidee der Szene; die räumliche Entsprechung sowohl fürs Dramatische (das Verfolgen und Flüchten) als auch fürs Musikalische (das Rauf und Runter der Tonleitern).
Dabei soll das Bühnenbild noch Raum lassen für die Fantasie des Zuschauers, des Regisseurs, der Schauspieler. – Ach, die Schauspieler! V.P. hat viele gezeichnet und bezüglich Physiognomie und Rolle frappierend scharf getroffen. Also Freiräume für die Fantasie; deshalb sei er eben kein Grundrissästhet. Er mag nämlich nicht das demonstrativ Erklärerische. Das mache das Theater zum Seminar, den Akteur zum Roboter. Kunst decke nicht auf, sondern rufe hervor. Etwa ein überraschtes Aha angesichts einer möglichst fein ironischen Entlarvung. Das Dauer-Entertainment der Gags, die permanente Überrumpelung des Publikums, das liege ihm nicht. Man darf annehmen, die gegenwärtig gängige Theatermode auch nicht.
Eigentlich hatte V.P. keine Karriere als Bühnenbildner im Sinn. „Es kam eher über mich. Dabei bin ich ein über die Rampe gekletterter Zuschauer geblieben.“ Was er aber immer auch war und blieb: Ein Maler und Zeichner; sein verehrtes Vorbild: der Ostberliner Werner Klemke.
Bei der Geburtstagsfeier zum Achtzigsten war denn auch immer wieder von Pfüllers ungebrochener „Bilderlust“ die Rede. Von der ins Groteske stechenden, raffiniert naiven Expressivität, dem Farbenfrohen, dieser erregenden Eintracht von Widersprüchen – im Schönen der Schreck, im Scherz der Schrecken. Nicht zufällig liebt der Schnauzbart so besonders den Dadaisten, Individualisten und Realisten, den Erzähler und Krimiautor Walter Serner. Die Bebilderung seiner Geschichten beispielsweise lässt den giftigen Biss spüren, den das Entsetzen hat, das da hinter der Komik des Gewöhnlichen lauert. Bei seinen so zahlreichen, geradezu ikonenhaften Plakaten ist es ähnlich.
Pfüllers surreale Bizarrerie, das bis ins Absurde kobolzend Kauzige offenbart sich wundersam auch in seinen Kinderbüchern. Oder in den köstlich mit Banalem und Bedeutungsvollem kokettierenden Bildchen zu den von ihm gedichteten „Musenküssen“. Eine Kostprobe: „Von Heinrich von Kleist weiß man nicht, wie er aussah, nur, wie er heißt.“ Oder: „Die Schlechten schreiben, wie sie mechten, aber die Guten schreiben exakt wie Duden.“ Und aller tollen Dinge sind drei: „Es geht ganz sachte, und es geht mit Geschrei, es geht auch anders, und es geht vorbei.“ – Die Miniatur dazu: Zwei umschlungene Gerippe im Grab.
Das Buch zum Geburtstag: Volker Pfüller „Bilderlust“, herausgegeben von Stephan Dörschel, Leiter des Archivs Darstellende Kunst der Berliner Akademie der Künste, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2019, 208 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Reinhard Wengierek, Volker Pfüller