Berlin-Moabit, 6. April 1932: Otto Wacker muss an diesem Mittwoch vor dem Schöffengericht im Schwurgerichtssaal Rechenschaft ablegen. Er macht ein Pokerface. Leo Rosenthal fotografierte damals den Kunsthändler im Gerichtssaal, was eigentlich verboten war, Rosenthal aber nicht davon abhalten konnte, seine Kamera des Öfteren mit in die Verhandlungen zu schmuggeln.
In „Der van Gogh-Coup. Otto Wackers Aufstieg und Fall“ haben sich die Autoren Nora und Stefan Koldehoff auf die Spur des gewieften Hochstaplers begeben und die Geschichte des Prozesses akribisch aufbereitet. Damals wurde Wacker angeklagt, insgesamt 33 falsche van Gogh-Gemälde in Umlauf gebracht zu haben, die vermutlich von seinem Bruder Leonhard oder von seinem Vater, dem Kunstmaler Martin Wacker, angefertigt worden waren.
Den Autoren gelingt es, die mediale Sensation, das Raunen, das damals durch die Öffentlichkeit ging, greifbar zu machen, aber auch die extrem aufwändigen Methoden zu veranschaulichen, die die Bilder als Fälschungen enttarnen sollten, nachdem etliche renommierte Experten ihnen anfangs euphorisch die Echtheit attestiert hatten. Seltene Familienfotos lassen Kindheit und Jugend des mysteriösen Otto Wacker aufleben, machen seinen Lebensweg nach langer Zeit zum ersten Mal ein wenig transparenter. Eine vollständige Biografie oder sogar eine Antwort auf die Frage, warum Wacker eigentlich kriminell wurde, bietet das Buch, das keine kriminalpsychologische Studie sein soll, jedoch nicht. Es soll vor allem einen Einblick geben, wie arg der Skandal damals den Kunstmarkt erschütterte und wie man verzweifelt versuchte, dem Betrüger auf die Schliche zu kommen, um letzten Endes den guten Ruf Deutschlands auf dem internationalen Kunstmarkt wieder herzustellen.
Eigentlich war der 1898 in Düsseldorf geborene Otto Wacker Tänzer. Er verschrieb sich aber peu à peu dem lukrativeren Kunsthandel, weil er von unregelmäßigen Engagements kein festes monatliches Einkommen erwarten konnte. Um 1920 war Otto Wacker erstmals in Berlin als Tänzer „Olindo Lovaёl“ auf der Bildfläche erschienen. Ihn lockte in schweren Zeiten das große Geld, und blenden ließ man sich damals gerne. Van Gogh war extrem „in“, der Kunstmarkt heiß umkämpft. Eine erste Ausstellung beim renommierten Berliner Galeristen Paul Cassirer Anfang 1928 sorgte für großes Aufsehen, und tatsächlich fielen diverse Kunstexperten auf den Schwindel herein, weil Wacker auch mehrere angebliche Echtheitszertifikate in petto hatte. Als erste Zweifel daran aufkamen, löste das eine Kettenreaktion aus, die schließlich in den Prozess mündete. Und der wurde zum „Sensationsprozess“, ein Terminus, der in der Weimarer Zeit gern von der Presse verwendet wurde. Im Zuge dessen war es keine Seltenheit, dass man versuchte, Fotos von Beteiligten vor dem Gerichtsgebäude zu erhaschen. Dass man dazu auch in den Gerichtssaal vordrang, das war relativ neu, Vorreiter war der Berliner Fotograf Erich Salomon.
Ein „Who is who“ der damaligen Kunstwelt lief im Gerichtssaal auf, auch ein Neffe des Malers, Vincent Wilhelm van Gogh, sagte aus. Prozess und Berufungsprozess wurden zu medialen Inszenierungen, bei denen sogar Speziallampen und Röntgenstrahlen vor Gericht aufgefahren wurden, um die Echtheit der Bilder zu überprüfen. Der Publikumsandrang war enorm groß. Am Ende wurde Wacker zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis sowie zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, die er aber nicht zahlen konnte, so dass er erst 1935 aus der Haft entlassen wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich Wacker unter anderem als Tanzlehrer und Restaurateur über Wasser. Vor fast 50 Jahren starb er am 13. Oktober 1970 in Ostberlin, wahrscheinlich durch Freitod. Kurz zuvor hatte er seinen Lebensgefährten begraben müssen. Das Geheimnis um den tatsächlichen Maler der Bilder nahm Wacker mit ins Grab. Die Legende vom angeblichen russischen Kunstsammler, von dem er die Gemälde bekommen habe, widerrief er bis zu seinem Tod nicht, ebenso wenig die Behauptung, die Konkurrenz durch jüdische Kunstsammler in Berlin sei damals für sein Scheitern als Kunsthändler verantwortlich gewesen, nicht etwa der Prozess mit der anschließenden Haftstrafe. Nicht zuletzt war diese Tatsachenverdrehung das typische Verhalten eines Hochstaplers, der Wacker in gewisser Weise auch war, denn erlernt hatte er den Beruf des Kunsthändlers nicht.
Momentaufnahmen aus dem Gerichtssaal, Menschen, die gebannt den Prozess verfolgen, bis auf den letzten Platz gefüllte Säle. Es sind vor allem diese Fotos im Buch, die beim Betrachter im Gedächtnis haften bleiben. Die ganze Angelegenheit ist aber auch eine faszinierende Studie über Verbrechen in der Weimarer Zeit und ihre Rezeption durch die Tagespresse in jenen Jahren, als vor allem Betrüger und Hochstapler Hochkonjunktur hatten, aber auch neue Verbrechertypen wie der „Gentlemanverbrecher“ entstanden, zu denen der stets elegant gekleidete Otto Wacker sicherlich zählte. Oft wurde damals für das Gerichtsurteil der umstrittene Paragraf 51 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) herangezogen. Er konnte unter Umständen strafmildernd wirken, was nicht selten im öffentlich viel diskutierten Freispruch mit daran anschließender Unterbringung in der Psychiatrie endete, wenn der Täter „zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“. Auch Otto Wacker wurde damals von Gerichtspsychologen untersucht. Zeichen von Geisteskrankheit fanden sie nicht, sie bescheinigten ihm aber eine Persönlichkeit, die „gewisse, einem Psychopathen eigene Züge aufweist“. Ob tief in Wackers Inneren tatsächlich zwei Seelen wüteten – der rationale introvertierte, aber auch abgebrühte Kunsthändler und der extravagante, extrovertierte Tänzer Olindo Lovaёl –, das muss auch nach der Lektüre des Buchs offen bleiben. Jedenfalls bediente er äußerst geschickt die wohl den Verstand aussetzen lassende Gier der Menschen, unbedingt einen echten van Gogh zu besitzen.
Stefan und Nora Koldehoff: Der van Gogh-Coup. Otto Wackers Aufstieg und Fall. Nimbus-Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2019, 220 Seiten, 29,80 Euro.
Schlagwörter: Bettina Müller, Kunstfälschungen, Nora und Stefan Koldehoff, Otto Wacker, Vincent Van Gogh