23. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2020

Geschichte ins rechte Licht gerückt …

von Joachim Lange

Wir sind das Volk!“ Das hieß 1989 auf den Straßen der DDR: Wir, die das rufen, sind es, und nicht ihr Funktionäre, die ihr behauptet, in unserem Namen zu sprechen. Angst mussten damals die Angesprochenen bekommen. Nicht um ihr Leben, aber um ihre Macht. Wenn dieser Spruch heute auf den Straßen erklingt, dann trägt auch der die Unterscheidung von Wir und Ihr vor sich her. Bei dem nach 30 Jahren erneut verwendeten Slogan geht es wieder gegen die Herrschenden. Diesmal freilich gegen alle, die sich an die Spielregeln der Demokratie halten und sich der Komplexität der Verhältnisse und Herausforderungen der Zeit stellen. Diesmal wird im Namen der Vereinfachung und des Populismus gebrüllt. Und im Namen einer tatsächlich angestrebten Alternative für das liberale und weltoffene Deutschland.

Einer ihrer vom rechten Flügel aus führenden ideologischen Wortführer träumt von einer Wende, nach der „wir Deutschen … keine halben Sachen“ machen werden. „Dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt, denn die größten Probleme von heute sind ihr anzulasten.“ Dieser Björn-Höcke-Kernsatz wurde am Tag der jüngsten „Lohengrin“-Premiere in der Erfurter Oper – wenige Stunde davor hatte sich der mit AfD-Stimmen gewählte FDP-Ministerpräsident zum Rücktritt gezwungen gesehen – in der ersten Pause neben einem Brief von Hitler aus dem Jahre 1930 auf den Eisernen Vorhang projiziert. Dass der (Ver-)Führer beschreibt, wie man den „Verwaltungs- und Beamtenkörper“ von den „roten Revolutionserscheinungen säubert“, indem man die Macht der Ministerien rücksichtslos und beharrlich nutzt, klingt wie eine Erläuterung des aktuellen Textes. Der wiederum wie eine Verallgemeinerung und Schlussfolgerung aus dem 90 Jahre alten.

Ein Aufeinanderprallen von Kunst und Wirklichkeit wird in jüngster Zeit und auf vielen Ebenen immer häufiger zu einem Crescendo, bei dem sich Selbstvergewisserung und eine lange nicht gekannte Infragestellung gegenseitig aufschaukeln. Die „Lohengrin“-Inszenierung von Hans Joachim Frey ignorierte zwar komplett die politischen Steilvorlagen, die das Stück mit seinem Waffenscheppern fürs Deutsche Reich durchaus bietet. Das politische Erdbeben und die anhaltenden Nachbeben in Thüringen ließen es freilich nicht zu, in der Oper am Tag der Premiere und des Rücktritts des Aus-Versehen-Ministerpräsidenten von der FDP so zu tun, als wäre nichts …

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In Berliner Hebbel am Ufer, dem HAU, ging es gleich zur Sache. Dort zelebrierte die slowenische Gruppe Laibach zu ihrem donnernden Sound Heiner-Müller-Texte. Unter dem Titel „Wir sind das Volk“ wurden die wenigen Vorstellungen zwar als neues Musical verkauft, waren aber eher ein szenisches Konzert. Mit Texten von Heiner Müller. Dem die lakonisch kurzschließende Art der Slowenen auf erstaunliche Weise verwandt erschien.

Wie einst auch das Theatergenie Einar Schleef provoziert Laibach vor allem mit Versatzstücken einer martialischen Ästhetik immer wieder den Verdacht eines Spiels mit der Faszination des Faschistoiden. Bis hin zu den Armbinden mit den schwarzen Kreuzen, die die heute ziemlich zahm wirkenden Musiker beim Konzert tragen. Und doch umweht sie ihre Rammstein- und Bürgerschreck-Aura noch. Als die Gruppe 1980 gegründet wurde, war sie zunächst mal der pure Schrecken für die dort Mächtigen und handelte sich Auftrittsverbote ein. Die ja auch eine Art Karrieretreibstoff sind. Dabei wird der Habitus des Totalitarismus zum Rohstoff für Pop. Das Spiel mit der Faszination dieser Ästhetik kommt nicht ohne sie aus. Bleibt aber, wenn sie als Theatermelange mit mundgerecht verarbeiteten Heiner Müller Zitaten daherkommt, ohne die Nebenwirkungen, vor denen Unbedarftheit geschützt werden müsste. Schon, dass Laibach öfter an Frank Castorfs Volksbühne gastierte und Regisseure wie Sebastian Baumgarten oder Milo Rau mit ihnen arbeiteten, belegt das.

Im HAU meißeln Agnes Mann und Susanne Sachsse mit stilisierter Sprachstrenge Müller-Worte, wenn schon nicht in Stein, so doch in Styropor, und werfen sie in den Saal. Imponierende Videoclips folgen dorthin. Fürs Mittendrin-Gefühl ist das nicht schlecht. Wir hören wie Heiner Müller als Kind die Verhaftung seines sozialdemokratischen Vaters erlebt hat. Oder wie er nach der Übersiedlung in Mecklenburg-Vorpommern wie ein Ausländer gemobbt wurde und wie das in Rache und Hassgefühle umschlug. Oder Müllers Text „Herakles 2 oder die Hydra“. Nach ein paar Takten-Tristan folgt ein Bayreuth-Gedicht, das es in sich hat. Müller hatte mit seiner „Tristan und Isolde“-Festspiel-Inszenierung einen spektakulären Erfolg eingefahren, reflektiert in dem Text aber über Juden und Seife und die dunkle Seite der Bayreuther Vergangenheit. („Das Haus, der Garten, die Stadt Bayreuth riechen nach Seife. Jetzt weiß ich, sage ich gegen die Stille, was es heißt, in der Hölle zu wohnen und nicht tot zu sein oder ein Mörder. Hier wurde AUSCHWITZ geboren im Seifengeruch.“) Wiedervereinigungskommentare wie „10 Deutsche sind dümmer als 5 Deutsche“ klingen gut, lassen schmunzeln, machen aber zugleich aus einer Möglichkeit eine Behauptung mit einer Prise Selbsthass.

Die vierzig Jahre Band-Geschichte von Laibach sind ein Kapitel für sich. Der Kulturjournalist Tobi Müller umkreiste sie dankenswerterweise für den, der wollte, in einer Einführung essayistisch. Verbote in Slowenien, Faschismusverdacht und 2015 zwei Konzerte in Nordkorea, die Teilnahme am Kunststaat NSK (Neue Slowenische Kunst) gehören dazu. Und die Kraft des Kulturbetriebes auch Laibach zu vereinnahmen und durch die Melange mit Heiner Müller in ein rechtes (wenn man es politisch nimmt, müsste es heißen linkes) Licht zu rücken. So wie es Dramaturgin und Regisseurin Anja Quickert jetzt mit „Wir sind das Volk – ein Musical“ ins HAU platziert hat. Die Musik dröhnt, die Drummer imaginieren Granateneinschläge, der Sänger röhrt, die Texte sitzen, die Videos fluten klug kalkuliert. Ob Familienbilder von SS-Männern, Firmennahme oder Skulpturen im Stile Arno Brekers.

Am Ende gibt es noch einen Epilog des Philosophen Peter Mlakar an das Volk. Dem er ziemlich deutlich das Misstrauen ausspricht. „Liebe Deutsche, wir vertrauen euch nicht“ … Wer aber ist dieses Wir? Und wer sind diese Deutschen? Brecht fand Bevölkerung besser. Dem Begriff vom Volk misstraute er. Von da zu „völkisch“ ist es nur ein Schritt. Die Hommage ans Volk ist in Wahrheit eine an Heiner Müller. Also auch an dessen scharfen Blick in den Abgrund unserer Geschichte.