23. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2020

Querbeet 

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Eine Türkenwurst und ein kommunistischer Paradiesvogel …

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Noch nie hatte Deutschland so viele eingetragene Vereine wie jetzt: nämlich reichlich 600.000. Einer davon ist der Tennisclub Weiß-Grün Lengenfeld – und wir, das Publikum im Berliner Renaissance-Theater, wir gehören auch dazu. So will es das brillante Autorenduo Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob; als TV-Texter Kult mit den Formaten „Wochenshow“, „Ladykracher“, „Stromberg“ oder „Mord mit Aussicht“. Und so will es Guntbert Warns, Regisseur von „Extrawurst“, einem heißen Coup, den die beiden Comedy-Schreiber jetzt ins Theater schossen.

Auf der Bühne wird ‑ unter heftiger Anteilnahme im Parkett ‑ wie verrückt, aber mit fein frechem oder auch arg bösem Witz gestritten. Es geht – zunächst – um nichts weiter als ein Grillproblem. Genauer: Um die Neuanschaffung eines Gartengrills fürs kommende Vereinsvergnügen. Das teure Luxusgerät ist schon bestellt, da kommt die Frage auf, ob es nicht höflich sei, für den Deutschtürken Erol, dem einzigen Moslem im Club, einen Zweitgrill anzuschaffen. Denn wo Schweinefleisch grillt, könne keine Türkenwurst schmoren.

Türkenwurst sagt man nicht. Okay, da ist man sich einig im weiß-grünen Vorstand. Doch dann geht’s los: Warum eigentlich soll die saftige Mehrheit für so eine mickrige Minderheit eine Extrawurst finanzieren? ‑ Keine ganz harmlose Frage, die uns prompt ‑ zusammen mit den Lengenfeldern ‑ in einen Diskurs katapultiert, ob mit dem Extra-Gerät die deutsche Leitkultur gegrillt werde. Und wer da wen dominiere; man wisse ja, wohin das führe: „Zu Tennis mit Kopftuch und Muezzin, der die Vereinshymne jodelt“.

Die Fronten der entfachten Redeschlacht zwischen Ressentiments, mühsam gedeckeltem Rassismus sowie den blitzgescheiten, Vernunft gesteuerten Retourkutschen verlaufen im Zickzack zwischen Links und Rechts durchs Quartett der Vereinsmeier (Felix von Manteufel, Hansa Czypionka, Simone Thomalla und Christoph M. Ohrt). Erol, die mickrige Minderheit (Atheer Adel), hält sich zunächst, sein dickes Ende kommt noch, souverän bedeckt als neutraler Schlachtenbummler.

Die zunehmend exzessiven Überkreuz-Duelle füllen neunzig hochspannende Theaterminuten. Es kommt zu Heulkrämpfen, Wutexplosionen, Handgreiflichkeiten, Brüllerei und Türenschlägen. Tolles Ensemble, präzise Regie. Und in der dicken Luft aus berechtigten Befürchtungen und hysterischen Wahnvorstellungen geht es schon längst nicht mehr nur um den korrekten Grill fürs Fleisch. Vielmehr wirft man sich gefühlt alles demütigend oder herrschsüchtig einander an den Kopf, was einschlägige Integrationsdebatten landläufig so hergeben. Spitze Pointen knallen wie im Dauerfeuer in eine hoch kochende Gemengelage aus Rechthaberei und Rechthaben.

Dabei sind das eigentlich alles furchtbar nette Leute im Tennisclub, die sich zwischendurch, erschrocken über diverse Entgleisungen, sogar gegenseitig um Verzeihung bitten. Bis sie sich wieder – nächste Runde im Match ‑ gegenseitig provozieren und raushauen, was sie sich sonst nie getraut hätten rauszuhauen. Tja, die zivilisatorische Decke der theoretisch akzeptierten Toleranz untereinander und gegenüber andersartigen Kulturen oder Lebensweisen ist ziemlich dünn. Und in jedem von uns steckt ein Teufel und Engel, ein Gutmensch und Bösmensch…

Die Genialität der Autoren offenbart sich im Geschick, mit ätzendem Humor und abgründigem Sarkasmus komplexe gesellschaftliche Konflikte boulevardmäßig, doch beileibe nicht platt, durchzuspielen. Damit wird „Extrawurst“ zum prima Aufklärungsstück – ganz ohne besserwisserische Zeigefingerei. Woran hochsubventionierte Staatsbühnen sich schweißtreibend abarbeiten, hier wird es flott serviert – zum Lachen. Auch wenn sich – bleibt zu hoffen ‑ so manch einer im Publikum ertappt, genau an der falschen Stelle auf die Schenkel gekloppt zu haben. Ist doch dieser erhellende Abend auf vertrackte Art korrekt inkorrekt.

Und hat eine aashafte Pointe: Am Ende haut unser so sympathisch liberale Moslem Erol mit deutschnationalem Eifer auf die Kacke mit dem Bekenntnis, er sei genervt von Deutschland, das ein Paradies sei für zugewanderte Ganoven und Schmarotzer. Baff! Und erst mal Luft anhalten.

Wir kapieren: In solcherart Zank um einen Grill kann es keinen Sieger geben. Höchstens Nachdenkliche. Das Schlusswort im Chaos bekommt der große Vereinsvorsitzende als weisen Rat für alle Empörungshysteriker: „Leute, lasst die Kirche im Dorf und mal alle fünfe grad sein.“

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Als anno ’89 die Ostler sich aufmachten nach dem Westen, kam ein Westler in den Osten. „Ich bin Ronald M. Schernikau, komme aus Westberlin, bin seit dem 1. September 1989 DDR-Bürger, habe drei Bücher veröffentlicht, bin Kommunist“, sagte dieser schöne Mann mit schulterlang wallendem Haar in seiner Rede auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR Anfang März 1990. Dann sagte er noch: „Die Dummheit der Kommunisten ist kein Argument gegen den Kommunismus.“ Und vorausschauend: „Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinanderzusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe.“

Mit derlei Ansagen hatte der Dreißigjährige bei allen verschissen. Doch der aufstrebende Romancier (Literaturinstitut Leipzig, delegiert von der SEW), der verständnisvoll gefördert wurde von Ulbricht-und Goethe-Fan Peter Hacks („nur unter Diktaturen wachsen Dichter“), der verehrt wurde von Elfriede Jelinek und befreundet war mit Gisela Elsner und Irmtraud Morgner, dieser West-Ost-Flüchtling war kein Stalinist, sondern, nach eigener Anschauung, die „Milva der deutschen Literatur“. Ein Paradiesvogel also, hochbegabt, hellsichtig und wie es sich gehört für eine exzentrische Diva, einigermaßen verrückt. Ronald M. trug Schnauzbart und Pumps, mochte Karl Marx, Heiner Müller, Marylin Monroe, Schlagermusik, knackige Kerle und gelungene Sätze. Und starb 1991 mit 31 Jahren an Aids.

In der Berliner Volksbühne besann sich jetzt Regisseur Stefan Pucher auf diesen „letzten normalen Menschen“ (Peter Hacks) und inszenierte dessen Roman „legende“ (kleingeschrieben), verfasst zwischen 1985 und 1991, erstmals erschienen 1999.

Es sind rund 1000 Seiten, die da für die Bühne zu komprimieren sind. Und man merkt der opulenten, mit vielerlei Spielweisen und Filmeinspielern durchsetzten Aufführung die enorme Schwierigkeit des Unterfangens an. Es bleibt teils unverständlich, dramaturgisch unausgegoren, wirft aber dennoch gelegentlich einige erhellende Schlaglichter vornehmlich auf Alt-Westberliner Zeiten und deren linke Milieus, wobei die DDR-Nachbarschaft eher unbelichtet bleibt.

Diese wiederum, das sei hier nebenbei vermerkt, geistert just höchst eindrücklich auf der Bühne des Berliner Deutschen Theaters. Nämlich in Daniela Löffners Adaption von Brigitte Reimanns hoch komplexem Emanzipations- und Widerstandsroman „Franziska Linkerhand“ (DDR-Kultbuch der 1970er Jahre). In der Titelrolle die bewundernswert fragile und zugleich kämpferisch starke, zwischen Aufbruch und Resignation hin und her geschleuderte, schöne zarte Kathleen Morgeneyer. Sehr sehenswert!

Zurück zu Schernikaus „legende“, seinem autobiografisch getönten, überbordenden Monumentalwerk, diesem nicht zu Ende geformten Stilmix aus Parabel, Märchen, Comic, Kabarett und Parodie, aus philosophischem Dialog und Fake-Dokumentationen ohne durchgehenden Plot, ohne Story. Es ist eine schillernde Collage, ein grellbuntes Zeit- und Sittengemälde vom West-Berlin der 1980er Jahre. Da schwirren vier womöglich heilsbringende Götter durch den linkspolitischen Ideologie-Dschungel, hinter denen KP-Funktionär Max Reimann, Ulrike Meinhof, Klaus Mann und Therese Giehse stecken. Ein homosexueller Schokoladenproduzent sorgt für den Auftritt der noch dazu kapitalismuskritischen schwulen Fraktion. Und eine Schauspielerin gibt als Rausschmeißer einen poppigen Auftritt von Marianne Rosenberg. Alles sehr Retro und ziemlich klamottig und ohne kritische Distanz zum letztlich unübersichtlichen Reigen der vielen Figuren und zum Autor. Eine im diffusen hängen bleibende, freilich rührend gut gemeinte Hommage an einen so eigensinnig stolzen wie durch sturen Weltverbesserungswahn schwer verwundeten Freigeist mit genialischen Zügen.