Nicht um die zehn Jahre von 1869 bis 1879 geht es, die Friedrich Nietzsche als Professor der Klassischen Philologie in Basel gelebt hat – sie sind mittlerweile biographisch und werkgeschichtlich minutiös erforscht. Nein: Die Ausstellung „Übermensch – Friedrich Nietzsche und die Folgen“, die seit Mitte Oktober und noch bis zum 22. März im Historischen Museum Basel in der Barfüsserkirche zu sehen ist, beschäftigt sich mit Leben, Werk und Wirkung des Philosophen in ganzer Breite. Sie tut das unter der Leitfrage: „Wer war Friedrich Nietzsche? Ein kriegsverherrlichender Nazi-Vordenker, ein Frauenfeind, ein Wahnsinniger? Oder nicht vielmehr ein Anti-Antisemit, ein bekennender Europäer und ein Verfechter des Individualismus und der Selbstverwirklichung, von dem wir für die Herausforderungen der Gegenwart einiges lernen können?“
Diese Frage offen zu halten und gerade Menschen ohne Vorkenntnisse in die Lage zu versetzen, sich ein eigenes Urteil über Nietzsche zu bilden, ist ein ambitioniertes Vorhaben. Es umzusetzen, gelingt dem Kurator Benjamin Mortzfeld und seinen Mitarbeiterinnen zwar, jedoch um den Preis einer gelegentlich ermüdenden Menge an Erklärungen und Belehrungen, die in einem gewissen Kontrast steht zu der geringen Anzahl der präsentierten Exponate – das findet man ja in der zeitgenössischen Museumspädagogik durchgehend, dass weniger eine Sammlung gezeigt als vielmehr ein Lehrpfad begangen werden soll.
Nur 52 Nummern enthält der von Andreas Urs Sommer hervorragend konzipierte Katalog: Da steht der Lehnstuhl aus dem letzten Basler Haushalt, den der Philosoph nach der Beendigung seiner Wohngemeinschaft mit Franz Overbeck Mitte August 1875 gemeinsam mit seiner Schwester am Spalentorweg begründete und den beide vier Jahre später wieder aufgelöst haben; da finden wir die urtümliche Schreibmaschine, die ihm Elisabeth geschenkt hat, als er aufgrund seiner Augenanomalie die eigene Handschrift kaum noch lesen konnte; da sehen wir einen Teller aus dem Haushalt der Elsässer Fabrikantengattin Marie Baumgartner, mit der der junge Professor eine Weile Kontakt gepflegt hat. Die Klingersche Büste darf natürlich nicht fehlen, die Totenmaske auch nicht und schließlich schmunzelt man über das Zuglaufschild des Intercity „Friedrich Nietzsche“ der Deutschen Bahn, das die Präsenz Nietzsches in der Alltagskultur repräsentiert. Die meisten Exponate jedoch sind, wie bei einem Schriftsteller nicht anders zu erwarten, Manuskripte, Briefe und Erstausgaben; daneben stehen einige Bilder wichtiger Weggenossen wie das Altersporträt Overbecks von Fritz Burger oder Hans Lendorffs Profilbild seines Großonkels Jacob Burckhardt, das er nach der Vorlage einer von ihm selbst hergestellten Fotografie gemalt und das geradezu ikonischen Charakter bekommen hat.
Mehr Raum als die Ausstellungsstücke nehmen Erläuterungen und Schrifttafeln ein. Die Schautafel, anhand derer sich die Reisen Nietzsches nach der Aufgabe seines festen Wohnsitzes im Jahrestakt nachvollziehen lassen, fand ich sehr hilfreich; Schrifttafeln wie „Lebenswelten: Preussen und Basel“ oder „Freunde, Freizeit, Feierlichkeiten“ auch noch; was mich erheblich gestört hat, sind die aufdringlichen, in der Form von Textanmerkungen präsentierten Erklärungen, wie etwa zu den Begriffen „Eliteschule Pforta“ und „klassische Bildung“: „Die 1543 gegründete Schule ist eine der ältesten staatlichen Schulen Deutschlands. Zu Nietzsches Zeit wurde sie vom sächsischen Fürsten als Internat betrieben. Besonders begabte Jungen aus allen Schichten wurden ausgewählt und kostenfrei auf ein Studium vorbereitet.“ – „Die Schwerpunkte der Schule lagen auf Latein, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Mathematik. Das strenge Internatsleben sollte zusätzlich den Charakter formen.“ Nicht nur, dass man sich in der Lektüre des eigentlichen Textes abgelenkt und wie ein Pennäler an die Hand genommen fühlt – noch dazu ist die Erläuterung zu Schulpforta schlicht falsch: die Schule war zu Nietzsches Zeit längst preußisch und nicht mehr sächsisch.
Überall zwischen den Ausstellungsvitrinen stehen Monitore mit kurzen Nietzsche-Zitaten, bekannten („Überzeugungen sind Gefängnisse.“) und weniger bekannten. Sie lassen ins Nachdenken kommen – trotzdem mutet diese Aufstellung merkwürdig an, wenn am Beginn der Ausstellung ein Satz Giorgio Collis (der Mitherausgebers der endgültigen kritischen Nietzsche-Edition) das Motto angibt: „Ein Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt.“ Da braucht es dann wohl mindestens den Versuch einer Verschränkung der zentralen Begriffe von Nietzsches Philosophie auf einer eigenen großen Schautafel: Amor fati, Ewige Wiederkunft, Gott ist tot, Nihilismus, Übermensch, Wille zur Macht, Umwertung aller Werte. Und siehe, diese Verschränkung gelingt sehr feinfühlig und mit großer Offenheit für die verschiedensten Deutungsmöglichkeiten.
Wer sich auskennt, den berührt es, einige immer wieder abgebildete Objekte nun einmal bei gedämpftem Licht im Original betrachten zu können: die Freundschaftsschale etwa, die Carl von Gersdorff dem Ehepaar Overbeck als Hochzeitsgeschenk verehrt hat und die die Initialen unter anderem von Nietzsche, Treitschke, Wagner und Erwin Rohde trägt. Oder die Wahnsinnszettel aus Turin an Burckhardt und Overbeck und das Telegramm (mit all den Fehlern eines sprachlich offenbar überforderten Telegraphisten), mit dem dieser dem Leiter der Basler Nervenklinik die Ankunft des von ihm aus Turin zurückgeholten Freundes ankündigt: „+professeur wille hopital des aliene´ bale.+ somme en chemin arrivons demain a´ 7,42 et de suit chez vous. + gherbek.“ „Overbecks schwerste Reise“ ist diese Vitrine zu Recht überschrieben, man spürt das Zittern des scheuen Theologen, der später einmal gesagt haben soll, wenn er gewusst hätte, was danach geschah, hätte er besser einen Revolver mitgenommen.
Ganz unabhängig von Nietzsche, seinem Freundeskreis und seinem Nachleben hat mich noch ein ganz anderes Bild schaudern lassen: das des offenen Birsig, der als Kloake diente und erst in den Jahren 1898 bis 1900 zwischen Barfüsserplatz und Hauptpost unterirdisch kanalisiert wurde – wo heute die vornehme Falknerstraße verläuft. Es gab eben auch zu Nietzsches Zeit nicht nur das humanistische Basel, das der Professoren und des patrizischen „Daig“, es gab daneben und ganz im Zentrum das stinkende und vermüllte Basel der Viehschlächter, Bettler und Proletarier.
Schlagwörter: Friedrich Nietzsche, Hermann-Peter Eberlein, Historisches Museum Basel