Mit zunehmendem Unmut nehme ich die Absichtserklärungen von Ausstellungsmachern zur Kenntnis. Ich weiß, man muss solch Zeug aufschreiben, sonst gibt es kein Geld. Die deutschen Museen und Galerien haben so gut wie keine eigenen Ausstellungsetats. Sie müssen Fördermittel anzapfen, und die gibt es nur, wenn das Projekt irgendwie der Herren und Herrinnen „eigenem Geist“ entspricht. Bei Großvorhaben ist das der Bund, konkret „Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien“. Die Kunst ist unabhängig, ihre Präsentation ist es nicht.
Und Monika Grütters unterstützt natürlich ein Projekt des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin – nebenbei bemerkt liegt das sowieso in ihrer Zuständigkeit –, das argumentativen Flankenschutz liefert für eines ihrer Lieblingsprojekte: den unsäglichen Betonklotz mit Sandsteinfassade in Berlins Mitte. Ich meine das Humboldt-Forum. Das DHM zeigt derzeit eine groß angelegte biographische Sonderausstellung über die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt. Interessant sind die erwähnten Absichtserklärungen: Nach der Feststellung, dass beide „heute als deutsche Kosmopoliten gefeiert“ würden, verortet die Ausstellung nun „die Brüder als Europäer im Kontext ihrer Zeit“.
Als ich in den frühen 1970er Jahren in der DDR mein Abitur machte, wurde uns der ideologisch indifferente „Kosmopolitismus“ als verdammenswerter bürgerlicher Unsinn madig gemacht. Keine 50 Jahre später wird der Begriff „Europäer“ dagegengesetzt. Schließlich sind wir alle Europäer und müssen zusammenstehen. Dazu brauchen wir Symbolfiguren. Passenderweise fand man ein Dokument aus der Hand Wilhelm von Humboldts, das sich scheinbar wie von selbst in die aktuellen Pläne der EU-Granden einfügt. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Korsarenflotten der Barbareskenstaaten der nordafrikanischen Küstenregionen eine Geißel des westlichen Mittelmeeres. 1818 schlägt Humboldt – er ist in diplomatischem Auftrag in London tätig – vor, eine europäische Flotte gegen die Seeräuber auszurüsten. Dazu kommt es (noch) nicht. Die Egoismen der europäischen Mächte müssen sich erst in zwei Weltkriegen ausbluten. Bis zur Operation „Atalanta“ am Horn von Afrika sollten noch 190 Jahre vergehen. Aber mit ein paar intellektuellen Verrenkungen kann man Wilhelm von Humboldt schon mal als Vordenker einer europäischen Streitmacht à la Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen einsetzen …
Wilhelm von Humboldt agierte übrigens als einer von zwei diplomatischen Vertretern des Königs von Preußen auf dem Wiener Kongress 1814/15, der die Verhältnisse im nachnapoleonischen Europa regeln sollte. Die Ausstellung gibt diesem Ereignis breiten Raum. Unter anderem sind die Stühle zu bewundern, auf denen der Fürst Metternich und der preußische Gesandte Wilhelm von Humboldt saßen. Jeder hatte seinen eigenen, verziert mit dem Familienwappen. Die Verblüffung darüber, in welch positives Licht die Schaffung des europäischen Freiheitsgefängnisses vom Jahre 1815 gerückt werden kann, ist so groß, dass man selbst nach einer Sitzgelegenheit sucht.
In der Ausstellungsabteilung davor wird allerdings deutlich gemacht, wie entscheidend zum Beispiel Alexander von Humboldt durch das Erlebnis der Französischen Revolution geprägt wurde. Auf seiner gemeinsamen Reise mit Georg Forster zum Niederrhein 1790 machten die beiden auf dem Rückweg Anfang Juli in der französischen Hauptstadt Station. Die Pariser Bürgerinnen und Bürger bereiteten gerade das Marsfeld für die Feiern zum ersten Jahrestag des Bastille-Sturms vor. Der revolutionsbegeisterte Alexander griff sich eine Schubkarre und beteiligte sich spontan an den Erdarbeiten. Noch mit 76 Jahren bezeichnete er sich als „alten trikoloren Lappen“. Europäer im modernen Sinne? Eher nicht. Neben seinem lebenslangen Bekenntnis zu den Idealen der Großen Revolution waren es wohl vor allem die Arbeitsbedingungen, die ihm Paris bot, die ihn für lange Zeit an diese Stadt banden. Berlin konnte da nicht mithalten, und die politischen Verhältnisse in Preußen widerten ihn an.
Das macht den Reiz der Ausstellung aus: Aufmerksame Besucher stolpern von einem Widerspruch in der Biografie der Brüder zum anderen. Da wird Wilhelms erstaunlich weltoffene Grundhaltung manifest. Dann wird deutlich, dass dieser auch von den Berliner jüdischen Salons geprägte Gelehrte in seinen späteren Lebensjahren zum Antisemiten wurde. Allerdings nicht mit der ekelhaften Denke vieler seiner Zeitgenossen. Ein Jahr bevor zum Beispiel Christian Peter Beuth 1811 den Wunsch äußerte, jüdische Knaben mögen doch bei ihrer Beschneidung verbluten, verweigerte der preußische Kultusminister dem Antisemiten Friedrich Ludwig Jahn eine Oberlehrerstelle in Königsberg. Der Mann hieß Wilhelm von Humboldt.
Einerseits wird von den Kuratoren kein Zweifel an der humanistischen Grundhaltung gelassen, mit der Alexander von Humboldt während der Amerika-Expedition mit Aimé Bonpland 1799 bis 1804 den dortigen Verhältnissen begegnete. Andererseits bediente sich der erklärte Gegner jeglicher Form von Sklaverei der spanischen Kolonialbehörden und nutzte gern die Unterstützung der lateinamerikanischen Latifundistas. Ohne die wären die Epoche machenden Forschungsreisen Bonplands und Humboldts nicht möglich gewesen. Alexander von Humboldt beklagt die Schändung indianischer Heiligtümer – und schickt einen geraubten Schädel nach Europa. Er hält die in der Nachfolge Lavaters Mode gewordenen „physiognomischen“ Studien für lächerlich und wissenschaftlich nicht haltbar. Dennoch lässt er einer entsprechenden Publikation des Bruders seine Unterstützung zuteilwerden. Das Machwerk ist in der Ausstellung zu sehen.
Angesichts dessen hört man gelegentlich die in solchen Fällen üblichen Phrasen von den Sockeln, von denen man die Denkmale herunterholen müsse. Alexander von Humboldt wusste um die Neigung zur Selbstgefälligkeit bei Nachgeborenen: „Schwache Geister glauben in jeder Epoche wohlgefällig, dass die Menschheit auf dem Kulminationspunkt intellektueller Fortschritte angelangt sei; sie vergessen, dass […] während wir voranschreiten, das durchlaufene Feld immer größer wird, und dass der Horizont ständig zurückweicht.“ Das schrieb er 1847, und das gilt noch immer. Es ist zu allen Zeiten hilfreich, auf die durchlaufenen Felder zurückzublicken. Aber die schwachen Geister scheinen in Europa wieder einmal auf dem Vormarsch zu sein.
Einen kleinen Einspruch wagen die Kuratoren David Blankenstein und Bénédicte Savoy gegen ein Lieblingsprojekt ihrer Geldgeberin. Sie stellen das ab 1850 im Neuen Museum praktizierte Prinzip des Nebeneinanders von europäischen und außereuropäischen Kulturen – an deren Gleichrangigkeit zumindest Alexander von Humboldt keinen Zweifel hegte – als vorbildlich hin. Das ist eine Klatsche für alle, die die „außereuropäischen Kulturen“ in den beengten Betonkasten am Schloßplatz zwängen wollen – und in den Edelmuseen auf der Museumsinsel ausschließlich die „richtige“ Kunst sehen möchten. Im Humboldtschen Sinne ist dieser museale Post-Kolonialismus nicht.
Es ist sehr zu hoffen, dass der auch mit der DHM-Ausstellung angestoßene Diskurs über das Erbe der Humboldts nicht mit den sicherlich portionsweise erfolgenden Eröffnungsfeiern des „Forums“ verenden wird. Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum ist übrigens auf eine für Berliner Verhältnisse ungewöhnliche, geradezu sensationelle Weise barrierefrei gestaltet.
Wilhelm und Alexander von Humboldt. Deutsches Historisches Museum Berlin/Pei-Bau, Freitag bis Mittwoch 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr, Donnerstag bis 20.00 Uhr; noch bis zum 19. April 2020. Katalog 28,00 Euro.
Schlagwörter: Alexander von Humboldt, Deutsches Historisches Museum Berlin, Humboldt-Forum, Post-Kolonialismus, Wilhelm von Humboldt, Wolfgang Brauer